Gesehen werden
Es mag hippiesk klingen, aber ich finde das einfach furchtbar logisch: Wir können eigentlich die Motivation für sämtlichen menschlichen Handlungen, sofern sie nach außen gerichtet sind, aus einem einzigen Wunsch ableiten - wir wollen gesehen werden. Und zwar am liebsten so, wie wir uns uns selbst als Idealbild vorstellen.
Und ich würde sogar noch weiter gehen: Verknüpft man diese Erkenntnis mit der Theorie der „Elite Overproduction“ (zu viele gut ausgebildete Menschen kämpfen um eine schrumpfende Anzahl von Jobs), dann haben wir eine Erklärung für die verbreitete Unzufriedenheit, die Attraktivität von Populismus und die Radikalisierung auf den gängigen Kommunikationskanälen.
Aber, um bei der Sache zu bleiben: “Gesehen zu werden”, und zwar im Umriss des eigenen Selbstbildes, ist ein fast unerreichbares Ziel. Denn kommunikative Hindernisse, Hemmungen, soziale Normen oder die Grenzen von Sprache und Körperkommunikation, ja letztlich der Unterschied zwischen Ideal und Handlung stehen zwischen uns und der Welt. Selbst wenn Fremd- und Selbstbild halbwegs im Einklang miteinander stehen, sind wir nur ein Schatten, der im Lichte des Feuers an der Höhlenwand zu sehen ist.
Colm Tóibín hat es in einem Essay über Fernando Pessoa, dessen „Buch der Unruhe“ sich um genau dieses Dilemma dreht, viel besser als ich beschrieben:
“Wir alle, in unserer Menschlichkeit und unserem gelebten Leben, sind nichts als die Karikaturen unserer Seele. Wir sind immer weniger als wir sind. Wir bleiben immer eine groteske Übersetzung dessen, was wir gerne wären, und dessen was wir tief drinnen und wirklich sind.”
Bei der Wucht dieser Erkenntnis kann einem schwindelig werden. Ich glaube aber wirklich, vielleicht auch wieder etwas hippiesk: Wenn wir diese Wucht einander eingestehen könnten, würde die Welt zu einem friedlicheren Ort werden.
Notizen
Im Zusammenhang mit dem Voranschreiten von Machine-Learning-Anwendungen ist bereits vereinzelte vom Ende des Essays/ der langen Textform die Rede. Denn nichts können große Sprachmodelle (LLMs) besser, als lange Texte prägnant zusammenzufassen.
Wir befinden uns wahrscheinlich schon näher am Ende der Ära langer Texte, als es den offiziellen Anschein hat - wer liest heute zum Beispiel noch mehrere Bücher im Jahr? Die Verkaufszahlen an sich sind hier nur ein bedingter Marker. Und ich muss hier nicht erwähnen, dass ich als Liebhaber der journalistischen Langform und der Komplexitätsexpansion auf Buchlänge das für tragisch halten würde.
Aber ich gebe auch zu: Die kurze Form in diesem Newsletter trägt dieser Entwicklung in gewisser Weise Rechnung. Wohlwissend, dass die Argumentationsverknappung und Pointierung die Wahrscheinlichkeit erhöht, Edgelords & Edgeladys zu produzieren. Gebt mir deshalb etwas Zeit, mich einzugrooven in der fortgesetzten Bewältigung meiner digitalen Hypergraphie.
Wir bewegen uns auf einen Krieg zwischen China und den USA um Taiwan zu. Der chinesische Angriff war unprovoziert, wird es heißen. Allerdings mangelt es nicht an Provokationen. Speziell die aggressive Rhetorik & Isolationspolitik der Vereinigten Staaten ist nicht alleine mit hegemonialen Verlustängsten zu erklären. Sondern damit, dass das gemeinsame Feindbild China einen der letzten gemeinsamen Nenner zwischen Demokraten und Republikaner darstellt. Wie wäre es, auf Jerry Brown zu hören?
Das Triumphgehabe der progressiven US-Twitterati und Medienmenschen, weil zunächst deutlich mehr Journalisten als Demonstranten zu Trumps Anklage kamen: doppelt absurd. War man sich nicht einig, dass mediale Aufmerksamkeit für Trump wie Sauerstoff ist? Und umgekehrt: Man muss nicht Nixons “Silent Majority”-Meme wiederbeleben um zu wissen, dass sich die Unterstützung für ein Anliegen nicht unbedingt in Straßenpräsenz messen lässt (man ahnt, wie mein Tipp für die Republikaner-Primaries lautet).
US-Wahlen als Digitalmeilensteine
2004 Erstmals internetzentrierte Wahlkampf-Organisation (Howard Dean)
2008 Professionalisierung der Online-Mobilisierung (Barack Obama)
2012 Social Media als „First Screen“, Microtargeting
2016 Twitter-Steuerung von Aufmerksamkeit (Trump), Social-Media-Targeting, Verschwörungsmythen und Desinformation
2020 Online-Mobilmachung für einen Umsturzversuch (6. Januar)
2024 ??
So sehr ich es schätze, dass die taz ihre Berichterstattung über den afrikanischen Kontinent seit Jahrzehnten als Teil des Markenkerns betrachtet: Kann es sein, dass man bei den ethnischen Konflikten in Ostkongo die Rolle der Tutsi-Rebellenbewegung M23 herunterspielt bzw. sie als Miliz darstellt, die letztlich keine andere Wahl hat, als Gewalt anzuwenden? Ich bin nur ein interessierter Beobachter des Weltgeschehens, aber das scheint mir - gelinde gesagt - unterkomplex.
Der deutsche Medienjournalismus gleicht - zumindest in den Verlagsprodukten - nicht unbedingt einer „Trümmerlandschaft“, wie JJ Jakobs schreibt. Sondern vielmehr einem Ballon, aus dem schon lange die Luft raus ist. Da wurde der scheidenden G+J-Chefin Julia Jäckel aus Frankfurt zum Abschied gehuldigt, als hätte sie den darbenden Verlag wachgeküsst (ein Lob ohne Blick auf interne Verhältnisse). Da bekommt Thomas Rabe aus München den Hinweis, er müsse doch wissen, wie man die eingestellten Print-Titel “pflegt” (ein Ratschlag ohne jede Marktkenntnis). Medienjournalismus ist eben auch Wirtschaftsjournalismus ist eben auch Digitalisierungsjournalismus. Wer beides nicht beherrscht, dem bleibt nur Personality-Analyse und Tatort-Rezension.
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes