Hallo und vielen Dank für die vielen neuen Abos! Mit einer zweistelligen Zahl von Empfängern und Empfängerinnen darf ich mich jetzt Microinfluencer nennen, denke ich! 😎
Zum Erscheinungsrhythmus: Ich habe ehrlich gesagt noch keinen Ehrgeiz, das hier auf einen bestimmten Takt festzulegen. Mal finde ich Zeit und empfinde Mitteilungsbedürfnis, mal haben ich oder das Leben andere Pläne. Und auch thematisch werdet ihr hier - anders als im Internet-Observatorium - eher Serendipität finden.
Ivan Illich, einer der spannendsten Denker aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat 1996 den Satz gesagt:
“Ich glaube, wenn in dieser Welt der Technologie (…) so etwas wie ein politisches Leben für uns bleibt, dann beginnt es mit Freundschaft.”
Vorab: Illichs Technologie-Begriff ist sehr umfassend. Vom gängig Nachvollziehbaren (Technik, die sich ein System schafft, an dessen Logik wir uns anpassen) über das Umstrittene (seine Kritik am Schulwesen als institutioneller Technik) bis zum Problematischen (seine Analyse der Schulmedizin und ihrer Institutionen).
Illich war aber kein absolutistisch argumentierender Technologie-Skeptiker, sondern forderte “gesellige Werkzeuge” (convivial tools): Technik, die Menschen die Möglichkeit zum Entdecken, Basteln und Verändern geben. Lee Felsenstein ließ sich bei der Entwicklung des ersten kommerziell erhältlichen tragbaren Computers durch Illichs Philosophie inspirieren. Sicherlich finden sich auch Verbindungen zur Hacker-Ethik.
Aber zurück zur Freundschaft als Grundlage für ein politisches Leben in einer technologisierten Welt: Für Illich ist Freundschaft immer mit dem Gastmahl verbunden.
Der Philosoph Andrew J. Taggart hat auf Illichs Vorstellung von Freundschaft als “Conspiracy” im Ursprungssinn hingewiesen: con-spirare, gemeinsam atmen. Die Freundschaft, die während des Gastmahls entsteht, besitzt demnach durch drei Merkmale:
Das Vertrauen, das Co-Conspiratoren einander gegenseitig schenken.
Die Gastfreundschaft, die die Gäste sich mit dem “Einander-Gegenüber-Sein” erweisen.
Das Erschaffen einer Gemeinschaft zu dieser Gelegenheit, die diese Atmosphäre pflegt und aufrechterhält.
Das alles klingt erst einmal sehr nach hippiesken Folk Politics - wir setzen uns an einen Tisch und entwickeln daraus politisches Handeln.
Aber ich finde den Gedanken sehr relevant: Die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen, die wir Social Media zuschreiben, hängen direkt mit der Formatierung unserer Kommunikation und der Sortierung durch die Technologie zusammen. Öffentliche Kanäle sind von emotionalen Affekten, Stammesdenken und Datenbank-Dynamiken geprägt. Das Mediensystem funktioniert nach den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie. Nicht nur formal, sondern auch im Resultat ist das alles das Gegenteil eines Gastmahls.
Illich bemerkte, dass Gastfreundschaft in früheren Kulturen “in der Politik eine Bedingung für eine gute Gesellschaft“ war. Nun könne sie der Ausgangspunkt für Politik sein.
Ich würde das im Jahr 2023 umformulieren. Die Tugenden, die ein gutes Gastmahl ausmachen, könnten auch die Bedingung für gute Politik sein. Sowohl in der Auseinandersetzung, als auch beim Erkennen von Problemen und der Suche nach Lösungen. Das Versammeln an einem Tisch, das Anerkennen der Präsenz und Überzeugungen des Gegenübers, die Bereitschaft zum geduldigen Zuhören.
Einmal kurz raten: Wie viele Amerikaner und Amerikanerinnen haben Zugriffsrechte für US-Dokumente, die als “streng geheim” eingestuft sind?
Die Antwort gibt es nach dem Abo-Hinweis.
Die Antwort, die dazu im Economist steht: Mehr als eine Million.
Da wundern mich die “Pentagon Leaks” natürlich deutlich weniger, als wenn ich die “US-Regierung” abstrakt betrachte. Regierung, Sicherheitsbehörden, Geheimdienste, Militär - das sind alles keine kleinen Organisationen.
Im oben verlinkten Artikel ist noch ein weiterer netter historischer Zusammenhang erwähnt, der ebenfalls einleuchtet: Denn das “Intelligence Sharing” hat seit 2001 deutlich zugenommen - rund um 9/11 lautete der berechtigte Vorwurf, dass die Sicherheitsbehörden zu wenig Informationen ausgetauscht hätten. Nun tun sie es offensichtlich und die Wahrscheinlichkeit, dass etwas durchsickert, steigt entsprechend. Es ist anzunehmen, dass das Pendel jetzt zurückschwingt.
Taiwan erlebt gerade die schlimmste Trockenheit seit fast 100 Jahren. Denn wenn es regnet, dann nur wenig, und das kurz und heftig. Zum Speichern genügt das nicht in einer gebirgigen und sedimentreichen Topographie.
Im Süden des Landes ist man das gewohnt: 2023 ist bereits das dritte Jahr in Folge, in dem der Reisanbau ausgesetzt wird und die Regierung die Bauern dafür bezahlt, nichts zu pflanzen. Der Wassermangel dort ist aber nicht nur klimagemacht: Im Süden stehen auch die Chipfabriken von TSMC. Und die benötigen viel Wasser, deren Verbrauch politisch priorisiert wird.
Daran wird sich nichts ändern: Obwohl der Zengwen-Wasserspeicher nur noch zu 11 Prozent gefüllt ist, baut TSMC gerade eine neue Fabrik, die von dort gespeist wird. Die Chip-Industrie ist bekanntlich die Lebensversicherung des Landes. Aber der gesellschaftliche Preis dieser Intensiv-Produktion wird in den nächsten Jahren absehbar wachsen.
Solche Zwickmühlen warten im Zuge der Klimaveränderung fast überall auf der Welt. Die Entscheidung, dass Intel seine Chipfabrik im staubtrockenen Sachsen-Anhalt bauen darf, dürfte in ähnlichen Szenarien münden (wobei ich nicht mein Geld darauf verwetten würde, dass die Fabrik jemals kommt).
Ich liebe es, wenn das Deutschlandradio seine Archive durchsucht. Um zum Beispiel diese Interviews mit dem Philosophen und Ethiker Hans Jonas zutage zu fördern.
Einen Aspekt fand ich besonders bemerkenswert: Wie Jonas, dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, über seinen ehemaligen Lehrer Heidegger und dessen - ich nenne sie einmal so - nationalsozialistische Kehre spricht.
“Eine grausame Enttäuschung, bittere Enttäuschung. Und zwar eine Enttäuschung, die nicht nur sich auf die Person bezog, sondern auf die Kraft der Philosophie, Menschen, die vor so etwas zu bewahren, dass die Philosophie nicht die Kraft hatte, Heidegger zu schützen vor diesem Irrweg. Ich empfand es damals fast wie ein Fiasko der Philosophie, eine welthistorische Blamage oder Bankrott der Philosophie. Das durfte nicht sein, alles Mitläufertum, alles umfallen damals alle gleichalter drei, überall konnte man Zeils Dummheit, Verblendung, Schwäche, Feigheit machst du nicht alles anhören. Aber das der bedeutendste originalste, philosophische Denker meiner Zeit damit macht, das war ein ungeheurer Schlag für mich.”
Ich mache jetzt keinen Exkurs zu Heidegger-Rezeption auf. Aber auch hier ist bemerkenswert, wie frühere Weggefährten das Ganze nicht nur unbegreiflich fanden, sondern verschiedenste Deutungen entwickelten, die Heidegger direkt oder indirekt in Schutz nahmen. Auch Hans Jonas: Er verzweifelt hier ja explizit an der Philosophie — und nicht an Heideggers Überzeugungen und Opportunismus.
Der Frühling hat begonnen und damit - wenn es die Gelenke wollen - auch die Laufsaison. Wer nun Argumente sucht, nicht joggen gehen zu müssen, kann sich auf Neil Postman berufen. In seinen Ratschlägen, wie man den Rest seines Lebens leben sollte, argumentierte er:
“You cannot run your way to happiness. It is impossible to keep both your mind and your body in good repair. You must choose one or the other. The Greeks were wrong: Plato, the wrestler, was also the first fascist philosopher. Forget trying to beat gravity. Develop your mind, and let your body go.”
Bis zum nächsten Mal!
Johannes