#05 konservativ
Scruton und der europäische Konservatismus / Malthus' neue Relevanz / Wagner-Gruppe und koloniales Denken
Hallo, einen erholsamen Maifeiertag und vielen Dank fürs Lesen!
Wieviel Scruton verträgt der deutsche Konservatismus?
Ich bin auf das CDU-Grundsatzprogramm durchaus gespannt. Allerdings werden weder ein Programm noch Friedrich Merz darüber entscheiden, wohin sich der deutsche Konservatismus entwickelt. Ich denke, dass sich das je nach Personal, Strömungen und politischer Lage erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts entscheiden wird.
Adrian Woolridge hat in dieser Woche daran erinnert, welch prägende Figur der britische Philosoph Roger Scruton für den reaktionären Teil des europäischen Konservatismus (Meloni, Orban) ist.
Ich selber habe mich während meiner Zeit in den USA ein bisschen mit Scruton auseinandergesetzt. Sein Konservatismus ist prinzipiell durchaus faszinierend: Er lehnt den Thatcherismus als freies Spiel des Marktes ebenso ab wie linke Idee des starken Staates - beide führten letztlich zu einer Technokratisierung, die den Menschen schade. Auch seine Ablehnung des Multikulturalismus drückte keinen fehlenden Respekt vor anderen Kulturen aus, sondern die Angst vor einer Verschmelzung aller Ideologien zu einer einzigen dominierenden progressiven Ideenwelt. Sein Idealbild der “Oikophilie” sieht Liebe und Verantwortung für das nähere Umfeld vor (die Familie, die Nachbarn, die Gemeinde) und hat damit durchaus Anknüpfungspunkte an linke “Folk Politics”. Die Bewahrung des Existierenden schloss bei ihm selbstverständlich Natur- und Klimaschutz ein. Und er konnte sich für die Fuchsjagd aussprechen und gleichzeitig industrielles Schlachten ablehnen (man merkt, er war Engländer).
Leider hat er zeitlebens so viel geschrieben, dass man sich seinen Scruton heraussuchen konnte. Teilweise fand sich innerhalb eines Textes die klügste Idee neben der reaktionärsten Banalität. Gerade die älteren Werke verteidigen Homophobie und Fremdenfeindlichkeit. Entsprechend ist es kein Wunder, dass sich nun die Autoritäreren unter den Konservativen auf ihn berufen können.
Ich persönlich finde das durchaus bedauerlich. Denn ein moderner Konservatismus könnte auch in Deutschland von Scruton durchaus lernen. Nicht vom Kulturkämpfer, der er teilweise war (zu dem er aber auch gemacht wurde). Sondern von dem Scruton, der gesellschaftliche Veränderung nicht ablehnte, sie aber stets in Einklang bringen wollte mit der Verantwortung der Lebenden füreinander und für das Erbe derjenigen, die vor ihnen kamen und derer, die noch kommen werden. Andrew Koppelman hat das so zusammengefasst:
“Conservatism at its core, as Roger Scruton understands it, “tells us that we have collectively inherited good things that we must strive to keep”. It “starts from a sentiment that all mature people can readily share: the sentiment that good things are easily destroyed, but not easily created”. Our inheritance “brings with it not only the rights of ownership, but duties of trusteeship. Things fought for and died for should not be idly squandered. For they are the property of others, who are not yet born””
An Scruton lässt sich auch der innere Grundkonflikt des Konservatismus skizzieren: Die Gefahr des Umschlags ins Reaktionäre. Tradition und Verortung als Bollwerk gegen alles, was von außen kommt - ob es “das Fremde” in Gestalt der “Anderen” oder der Veränderung ist.
Graichen und Konsequenzen
Ich nehme an, dass Patrick Graichen nicht unmittelbar, aber doch im Laufe des Jahres seinen BMWK-Staatssekretärsposten aufgeben wird. Damit bleiben Form und Argument gewahrt: Nämlich dass es sich um den “Anschein der Vorteilsnahme” und nicht um ein konkretes Zuschustern eines Postens geht.
Ich halte es für richtig, dass Graichen geht. Denn ganz ehrlich: Mehrere Runden in einer Findungskommission sitzen und sich nicht rühren, während der eigene Trauzeuge zum immer engeren Kandidatenkreis gehört und schließlich den Posten erhält - das zeugt von einem miserablen politischen Gespür und einem höchst bedenklichen Unverständnis von Compliance.
Das Zeitalter der Tragödie
Im New Statesman ($) haben drei Menschen, die ich außerordentlich schätze, den Stand der Weltlage diagnostiziert: Der langjährige Auslandskorrespondent Robert Kaplan, dessen Buch “The Tragic Mind” ich gerade lese; die Oxford-Professorin Helen Thompson, deren Buch “Disorder” mir sehr dabei geholfen hat, die Energiepolitik seit 1900 zu verstehen; und John Gray, dessen philosophischer Blick auf das Weltgeschehen eigentlich immer hilfreich ist.
Alle drei setzen sich mit einer neuen Knappheit auseinander: Denn Malthus lag mit seiner Prognose zur Bevölkerungsfalle (Nahrungsmittelknappheit aufgrund von Überbevölkerung) zwar falsch. Aber die Überwindung des Malthusischen Problems war auch ein Resultat der Kohlenwasserstoff-Produktion, also des fossilen Zeitalters. Insofern, darin scheinen sie sich einig, wird Malthus im Kontext einer neuen Knappheit (an CO2-Verbrennungsmöglichkeiten, aber auch an Metallen, die für die Energiewende nötig sind) wieder relevant. John Gray:
“Western societies are based on the belief that resources and options can always in principle be expanded by human agency. In reality both are inherently limited – by geography, history and ideological folly – and it is this that explains the recurrence of tragedy in geopolitics. The task, as ever, is to make the best of the situation.”
Das koloniale Denken
Nelson Mandela schrieb in seiner Autobiografie über seine Zusammenarbeit mit dem KGB während des Befreiungskampfes:
“The cynical have always suggested that the Communists were using us. But who is to say that we were not using them."
Nathanial Powers erinnert in seinem Thread an diese Worte. Und verknüpft das mit der Beobachtung darüber, wie wir im Westen die Wagner-Gruppe wahrnehmen. Nämlich als eine Art neokoloniale Eingreiftruppe Russlands, die den afrikanischen Kontinent destabilisiert.
Der Einfluss der Wagner-Söldner ist nicht von der Hand zu weisen. Aber er wird wahrscheinlich auch von den örtlichen Regierungen und Kräften hochgespielt, um Macht auszustrahlen. Die Präsenz, schreibt Powers, folgt aus den örtlichen Gegebenheiten. Wagner Kontrolle über diese örtlichen Gegebenheiten zuzuschreiben, hieße, diese Umstände völlig zu unterschätzen - und letztlich die örtlichen Akteure in die Rolle der naiven Bauern im großen Weltmacht-Schachspiel zuzuweisen.
Und er hat recht: Eigentlich sollten wir im 21. Jahrhundert über solche Analyse-Schemata hinaus sein (ansonsten einfach Pankaj Mishra lesen).
Vieles deutet darauf hin…
Der Print-Spiegel hat in seinen Geschichten zur Bundespolitik die Möglichkeitsform zur Kunstform erhoben. Speziell, wenn es um Personalfragen geht (wer hat die Macht, wer will sie, wer verliert sie?), wird es schnell inflationär mit den Dingen, die gedacht worden/passiert sein oder passieren könnten. Beispiel aus einem aktuellen Text:
“Vieles deutet darauf hin.” “(…) war offenbar so irritiert, dass (…)”. “schien auf (…) zuzulaufen, aber (…)”. “könnte … werden”. “wohl auch diesmal”. "Aber ist das wirklich so?” “dürfte auch der Sorge entspringen”. “Auch wenn … nicht offen sagt …, gibt es einige Belege, die darauf hindeuten”. “könnte es am Ende”. “Wer ihm auf Twitter oder Instagram folgt, kann unschwer erkennen…”. “dürfte auch deshalb”. “könnte der Zeitpunkt…”. “könnte nicht (…), sondern…”. “spricht viel dafür…”
Es fällt durchaus auf, wie deutlich sich das von der Politikberichterstattung in U.S.-Medien wie der New York Times, Washington Post und dem New Yorker unterscheidet, wo sich “could” oder “seem” nur selten finden.
Links
Die beste Zusammenfassung des Konflikts im Sudan, die ich bislang gelesen habe.
David Runciman nimmt das neue Buch von Martin Wolf auseinander.
Über den Zusammenhang von Verstehen und Liebe im Sinne von Iris Murdoch.
Bis zur nächsten Ausgabe (in zehn bis 14 Tagen, denke ich).
Johannes