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Verdichtung
Anfang des Monats, am zweiten Tag der Re:publica, erlebte ich die Metamorphose meines Heuschnupfens: Nachdem er sich zunächst in einen Nasen-Bach verwandelt hatte, gab der Schnupfen am Abend sein Geheimnis preis und sich als fiese Sommergrippe zu erkennen.
Eine überraschende Wendung, die aber einem präzisen Timing folgte: Am Abend davor war mein zweiter 18-minütiger Hintergrund-Radiobeitrag innerhalb von 14 Tagen gelaufen. Das Ergebnis eines zweifachen Kraftakts, der mich umgerechnet viereinhalb zusätzliche unbezahlte Arbeitstage jenseits des Fünftagewoche-Alltagsgeschäfts gekostet hatte. Wenn ich es richtig interpretiere, empfanden mein Körper und Immunsystem diese Anstrengung als überfordernd.
Jetzt könnte ich hier die Abzweigung in Richtung meiner persönlichen Arbeitsbedingungen nehmen, oder aufzeigen, wohin sich der Journalismus unter solchen Voraussetzungen zwangsläufig entwickeln muss. Mir geht es heute aber über Arbeitsverdichtung grundsätzlich.
Arbeitsverdichtung bedeutet die Erhöhung des Arbeitsvolumens bei Arbeitnehmern pro Zeitspanne. Sie war und ist sie ein Instrument zur Rationalisierung: Mitarbeitende müssen produktiver werden, um den Gewinn zu steigern; oder weil sie im Zuge von Arbeitsplatzabbau Aufgabe von ehemaligen Kolleginnen und Kollegen übernehmen müssen.
Arbeitsverdichtung kann sehr individuell sein: Bei mir zum Beispiel gibt es keine Vorgaben, Hintergrund-Beiträge zu produzieren. Sie sind aber der interessantere Teil meines Jobs, gehören zu meiner internen wie externen “Visitenkarte” und auch zu den erfolgreichsten Formaten des Senders. Weil aber das Tagesgeschäft priorisiert wird, löse ich den Zielkonflikt für mich mittels Selbstausbeutung (wobei die Arbeitsverdichtung bereits im reinen Tagesgeschäft präsent sein kann).
In anderen Fällen “freiwilliger” Zusatzaufgaben spielen direkte Karriereleiter-Überlegungen eine Rolle oder schlicht Arbeitsmythen wie “Führungskräfte erhalten mehr Legitimität, wenn sie deutlich länger als der Rest des Teams arbeiten”.
In der Regel aber ist Arbeitsverdichtung selten freiwillig. Nehmen wir die Pflege: Stagnierende Fachkräfte-Ausstattung trifft auf wachsenden Aufwand und immer höhere Ansprüche. In anderen Branchen wiederum wird Arbeitszeit durch nachlassende und veraltete Infrastruktur gebunden.
So wird aus einem Instrument zur Krisenbewältigung oder Gewinnsteigerung ein Alltagszustand, an den wir uns gewöhnt haben. Auch, weil wir Deutschen religiös dem “Workism” anhängen. Derek Thompson schrieb im Jahr 2019 (auf die US-Amerikaner bezogen):
“What is workism? It is the belief that work is not only necessary to economic production, but also the centerpiece of one’s identity and life’s purpose; and the belief that any policy to promote human welfare must always encourage more work.”
Arbeitsverdichtung funktioniert also nicht nur durch ökonomischen Druck, sondern auch wegen unserer Selbstdefinition als “Mensch in der Arbeitswelt”. Daraus ergeben sich zahlreiche Spannungsfelder: Innerhalb von Teams und Organisationen, bei der Familienzeit oder der Familienplanung, im eigenen Gewissen (gute Arbeit vs. Strukturen vor dem Zusammenbruch bewahren) oder eben gesundheitlich, mal akut, mal chronisch.
Bislang gib es dafür keine guten, flächendeckenden Lösungen. Was an Arbeitszeitverkürzung vereinbart wird, verdichtet sich oft in den verbleibenden Stunden. Die Vier-Tage-Woche wird zur 40-Stunden-Woche, nur eben schlechter bezahlt. Und irgendwo in dieser Logik fühlt sich der/die Einzelne verantwortlich für das große, von Klebeband zusammengehaltene Ganze, aber nicht für die Konsequenzen, die diese Form von Arbeit für Privatleben, Umfeld und Gesundheit haben kann. Und erkennt nicht selten, dass auch ein Stellenwechsel (oder Selbständigkeit) daran nichts ändert.
Ich würde sagen, das klingt ein bisschen ungesund.
Aufgebrauchte Substanz
Dieser Reddit-Thread mit dem Titel “Was geht in eurer Branche ab, was die breite Gesellschaft nicht mitbekommt?” ist nichts für Menschen, die ihre pessimistischen Gedanken loswerden wollen. tl;dr: Deutschland geht auf dem Zahnfleisch, die Substanz ist weitestgehend aufgebraucht.
Natürlich sind auch Beispiele von struktureller Unfähigkeit oder betrügerischer Absicht dabei. Aber im Kern steht: Weniger Menschen sollen irgendwie ganz viele Sachen machen, die aber in Wahrheit sehr viel aufwändiger sind, als es die Zeit zulässt. Womit wir wieder beim Anfangsthema wären.
Die politische Lage
Die nächste Bundestagswahl ist erst in 27 Monaten, doch macht sich bei mir bereits der Eindruck breit: Das könnte bis weit in den 2030er hinein die letzte Bundesregierung sein, die qua Zusammensetzung als progressiv gelten konnte.
Nun würde Olaf Scholz darauf verweisen, dass am Ende Amtsinhaber einen natürlichen Bonus genießen und noch unklar ist, wer aus der CDU/CSU sein Hauptgegner sein wird. Doch es kommen gerade einige Dinge zusammen:
Die Probleme rund um Fachkräftemangel und Versorgungsstrukturen schlagen gerade massiv im Alltag der Menschen durch. Und erzeugen ein Gefühl, dass die Bundesrepublik ihre besten Jahre hinter sich hat. Verstärkt wird das noch durch die gegenwärtige Inflation und die Machtlosigkeit des/der Einzelnen, dieser Preissteigerung ausgesetzt zu sein.
Das Versprechen einer progressiven Regierung, die Deutschland zukunftssicher macht, wurde bislang nicht eingelöst. Handwerkliche Fehler (Gebäudeenergiegesetz) und unerwünschte Nebeneffekte (Industriestrompreis) erwecken den Eindruck, dass die Symptome falsch behandelt werden und/oder Ideologie über Pragmatismus steht. Letzteres wird durch die Kulturkampf-Parolen aus dem konservativ-bürgerlichen bis reaktionärem Lager verstärkt; das Narrativ von den abgehobenen Regierungseliten verfängt.
Der Verweis darauf, dass die Ampel viele Probleme aus den unionsgeführten Regierungsjahren geerbt hat, ist nicht falsch. Und doch wirkt er nach fast zwei Jahren eigener Regierungsmacht mehr und mehr wie eine Ausrede.
Mir scheint es mehrere Konstanten zu geben: Bei der Problemlösung setzt sich angetrieben von Scholz ein Kurs durch, der einer Großen Koalition nicht unähnlich ist (siehe Aufweichung der Sektorziele, wenn die Nachfinanzierung konkret zu werden droht). Das hängt damit zusammen, dass über den Bundesrat längst eine große Koalition mitregiert - aber auch an dem Bewusstsein, dass der Bevölkerung keine weiteren politischen Härten und Veränderungen zumutbar zu sein scheinen.
Und auch die handwerklichen Schwächen in der Gesetzgebung scheinen sich unabhängig von den handelnden Parteien fortzusetzen (allerdings ist der politische Fachkräftemangel der Regierungsparteien in der zweiten und dritten Reihe der Ministerien deutlich erkennbar).
Kommunikativ wiederum kann Scholz das “Leading from Behind” nicht so glaubwürdig wie Merkel verkörpern, während die FDP als innerkoalitionäre Common-Sense-Opposition das Fortschrittsnarrativ in einigen Themen so stark unterläuft, dass die Ampel insgesamt als schwach wahrgenommen wird.
Eine Schwäche, deren Umdeutung als elitäre Lebensfremdheit derzeit vor allem einer Partei zugute kommt: der AfD. Denn deren Botschaft ist im Kern nicht anderes als ein “Gebt es den Eliten, und zwar richtig!”.
AfD und Vibe-Politik
Noch ein paar Worte zum Erfolg der AfD bei der Landratswahl in Sonneberg, der angesichts einer größeren Präsenz der Partei in den Landtagen und im Bundestag nicht überraschend kommt.
Ich lande bei der Frage, warum Rechtsnationalisten/Rechtsextremisten bei Wahlen Erfolg haben, in letzter Zeit immer wieder bei der “Vibes Theory of Politics” von Janah Ganesh: Politische Überzeugungen bilden sich eher aus tribalen (also stammesmäßigen) Loyalitäten zu finden aus rationalen Denkprozessen.
Zitat (Übersetzung meine):
“Nach 20 Jahren in und um die Politik herum bin ich mir einer Sache Sicher: Die ideologischen Überzeugungen der meisten Menschen sind nicht besonders ausgeprägt. Was sie als Überzeugung wahrnehmen, ist oft eine post-hoc Rationalisierung der Loyalität zu einer bestimmten Gruppen. Wichtig ist dabei auch, dass das auf höher gebildete, bessere informierte Wähler und Wählerinnen sogar besonders stark zutrifft. Bildung kann Menschen von ihren Eltern und ihrer Heimatregion entfremden. Sie suchen nach einer alternativen Identität - und ein politischer Stamm funktioniert hier bestens.”
Das macht es sehr schwierig, überhaupt politische Strategien zu entwickeln. Entsprechend ratlos bin ich, wenn von politischen “Angeboten” die Rede ist, die nun gefordert werden.
Der nächste China-Schock
…wird vor allem die deutsche Autoindustrie treffen.
(Quelle)
Der korrupte Supreme Court
Das ist der Antonin Scalia, inzwischen verstorbener Richter am amerikanischen Supreme Court, auf einem Foto aus dem Jahr 2005. Er mixt sich gerade einen Martini, den er mit Gletschereis kühlt. Ein konservativer Großspender hatte den konservativen Richter eingeladen.
Was keine Seltenheit ist: 2008 nahm der Multimilliardär und republikanische Großspender Paul Singer Scalias (ebenfalls konservativen) Richterkollegen Samuel Alito in seinem Privatjet nach Alaska mit, um mit ihm fischen zu gehen. Singer hatte mehrere Fälle vor den Supreme Court gebracht, unter anderem das Verfahren im Schuldenstreit mit dem Land Argentinien 2014. Bei dem sich Alito natürlich nicht wegen Befangenheit aus dem Verfahren zurückzog.
Und da wäre Clarence Thomas, ein weiterer Konservativer am Obersten Gerichtshof. Der wird von einem weiteren republikanischen Milliardär gesponsert. Das Wort “gesponsert” ist völlig angebracht, wenn ich mich zu Luxusreisen einladen lasse und jemand einem Verwandten von mir die Studiengebühren zahlt.
Das ist alles Korruption im großen Stil. Und wieder einmal blicke ich auf die amerikanische Demokratie und sehe einen Abgrund. Eine Selbstverständlichkeit, mit der jede Form von Anstand und institutioneller Pflicht weggeworfen wird. Und da spreche ich noch nicht einmal von Thomas’ Ehefrau und ihrer Beteiligung am Umsturzversuch vom 6. Januar 2022.
Und das Foto oben steht sinnbildlich dafür.
“You won’t find a better image for the collapse of the American experiment than this one.”
schreibt
in Today in Tabs.So ist es.
Heilige Wälder
Jacob Mikanowski hat aus diesem Artikel ein Buch gemacht, in dem er die Kulturgeschichte Osteuropas erzählt. Ich kann “Adieu, Osteuropa” als faszinierendes Kompendium uneingeschränkt empfehlen.
Zum Beispiel wegen der Erwähnung dieses Waldes:
Der Wald - oder besser: Hain - steht im Westen Lettlands, durchtrennt von einer Schnellstraße. Bis zum frühen 15. Jahrhundert allerdings waren diese Bäume für die Menschen aus der umliegenden Region nichts anderes als Götter, das “Elka” genannte Gehölz zur Zeit der kurischen Könige ein heiliger Ort. Ich finde diese Vorstellung so faszinierend, dass ich die Elka gleich mal auf meine Liste von Reisezielen gesetzt habe. Obwohl ich genau weiß, dass der Besuch eigentlich wahnsinnig unspektakulär sein wird.
Bis bald!
Johannes