Notizen aus der abgelaufenen Woche.
Montag, 30. Oktober 2023: Moralgeschichte
Ich bin sehr gespannt darauf, ob und wie Frank Trentmanns Moralgeschichte der Deutschen (“Aufbruch des Gewissens”) hierzulande rezipiert bzw. überhaupt rezensiert wird. Der Aufschlag des Deutschlandradios macht mit einer XXL-Besprechung schon einmal Lust auf mehr.
Wer Trentmann nicht kennt: Der Historiker hat vor einigen Jahren eine Geschichte des Konsums vorgelegt, die schnell zu einem internationalen Standardwerk wurde. Er ist Deutscher, lehrt aber bereits seit langem in den USA und heute Großbritannien. Was allerdings heißt: In Deutschland sinkt dadurch die Chance, als Intellektueller mit seinen Thesen wahrgenommen zu werden. Im hiesigen Betrieb bevorzugt man den unkaputtbaren Heinrich-August Winkler, den omnipräsenten Herfried Münkler oder die thesenorientierte Hedwig Richter.
Dieser Provinzialität steht die Auslandswahrnehmung entgegen: Hier (konkret: in den USA und Großbritannien) stehen Trentmanns Chancen gut, da er dort lehrt und sein Werk zeitgleich auch in englischer Sprache erscheint. Das hat er den oben Genannten voraus. Es könnte also sein, dass er das Bild der Deutschen im akademischen und intellektuellen Ausland maßgeblich prägen wird, man in Deutschland aber davon gar nichts mitkriegt.
Dienstag, 31. Oktober: Rekorde
“Eine Analyse von Daten, die vom Uppsala Conflict Data Program gesammelt und vom Peace Research Institute Oslo ausgewertet wurden, zeigt, dass die Anzahl, Intensität und Dauer von Konflikten weltweit seit dem Ende des Kalten Krieges auf einem Höchststand sind. Die Studie ergab, dass es im Jahr 2022 insgesamt 55 aktive Konflikte gab, deren durchschnittliche Dauer etwa acht bis elf Jahre betrug. Das ist ein erheblicher Anstieg im Vergleich zu den 33 aktiven Konflikten vor einem Jahrzehnt, die damals im Durchschnitt sieben Jahre dauerten.”
Mitteilung der Internationalen Organisation für Migration (IOM):
"Die IOM verstärkt ihre Bemühungen, um die komplexe und anhaltende Krise in der Demokratischen Republik Kongo anzugehen, da die Anzahl der Binnenvertriebenen (IDPs) im Land auf 6,9 Millionen Menschen ansteigt - die bisher höchste erfasste Zahl. (…) Im Oktober 2023 lebten etwa 5,6 Millionen Binnenvertriebene in den östlichen Provinzen Nord-Kivu, Süd-Kivu, Ituri und Tanganyika. Konflikt wird als Hauptgrund für die Vertreibung angegeben.”
Mittwoch, 1. November: Das gebrochene Versprechen
Eine Befürchtung nach dem 7. Oktober: Die Hoffnung und das Versprechen, dass jüdische Menschen sich in Deutschland sicher fühlen können und jüdisches Leben in Deutschland erblüht, wird zu meinen Lebzeiten wohl nicht mehr eingelöst werden können. Das alles war ohnehin immer fragil, aber ich mag mir nicht ausmalen, wie viele Menschen gerade in Deutschland und Europa ihr Jüdisch-sein noch einmal besonders verbergen, um das Risiko von Hass und tätlichen Angriffen zu verringern. Dass der Grund dafür ein Massenmord an Juden ist, der noch dazu in seiner Unmenschlichkeit an das Vorgehen der SS erinnert, macht es noch einmal unerträglicher.
Donnerstag, 2. November: Habeck
Eine Auswahl von Schlagzeilen bis heute Mittag:
Muslime, Deutsche, Linke: In Antisemitismus-Ansage holt Habeck zum Rundumschlag aus
Robert Habeck springt für Annalena Baerbock ein: Deutliche Worte zu Israel
Habecks Israel-Video -
Spricht da ein potentieller Kanzlerkandidat?Judenhass, Terror, Staatsräson – Habecks Video gerät zur Rede an die Nation
Viel beachtete Israel-Rede: Habecks Video in voller Länge
Habeck bekommt Lob für Israel-Video - “Bundeskanzler-Niveau”
Wie Robert Habeck mit seiner Rede Olaf Scholz und Annalena Baerbock vorführt
Klar, das sind nur die absurdesten Beispiele. Ich frage mich aber dennoch, ob dahinter das Bedürfnis a) nach dem Ausdruck dieser klaren Haltung oder b) nach der politischen Rhetorik steckt, wie Habeck sie verkörpert - oder c) eher der übliche mediale Drang zur Personalisierung des politischen Geschehens am Werk ist. Vielleicht aber sind das einfach nur die ständig gleichen Mechanismen, die bei der Berichterstattung über virale Videos seit fast anderthalb Jahrzehnten üblich sind. Vielleicht bin ich aber nur ziemlich altmodisch geworden in meinen Ansichten, welche Art von Berichterstattung relevant ist.
Freitag, 3. November: Frühdienst
Heute früh habe ich mich ab 4 Uhr im Bett gewälzt und über Künstliche Intelligenz nachgedacht. Genauer gesagt über die Frage, ob die amerikanische Meldepflicht von bestimmten Modelltrainings und Groß-Rechenzentren die richtigen Risiken senkt, welche Auswirkungen das auf bestehende Marktmacht-Strukturen hat, ob es globale Ausweichbewegungen gibt und welche Risiken das für OpenSource-Entwicklungen erhöht.
Nicht fragen.
Dass ich so früh wach war, passte ganz gut, weil ich eh Frühdienst hatte (und dabei im Radio zu einem ganz anderen Thema zu hören war, Bundespolitik FTW!). Allerdings musste ich mich zwischendurch mit den Chemical Brothers im Ohr beschallen, um so etwas wie Wachheit zu simulieren. Und dann sagte mir die Kollegin in der Regie noch “Ausstiegszeit 6:44 Uhr”, die echte Ausstiegszeit war allerdings 6:43 Uhr, was die Ungeduld des Moderators und meine immer schneller werdenden Antworten erklärt.
Sei es drum. Als ich die ersten Male morgens im Radio aufgetreten bin, konnte ich vorher nur zwei, höchstens drei Stunden schlafen, so aufgeregt war ich. Und ich weiß den Luxus zu schätzen, schlaflose Nächte wegen KI zu haben. Das Thema ist ja - mögliche Killerroboter, die demnächst auftauchen könnten, ausgenommen - viel weniger akut als persönliche oder materielle Sorgen, die man nachts wälzt.
Insofern war es ein guter Morgen.
Samstag, 4. November: Älterwerden
“Meiner Erfahrung nach altern die meisten von uns weg von Verstand und Ehrgeiz hin zu Herz und Seele, und wir baden in der Erleichterung, dass die Dinge nicht schlimmer sind.”
Das schreibt Anne Lamott ($) über das Älterwerden und das scheint mir doch eine erfreuliche Perspektive für die kommenden Jahrzehnte.
Sonntag, 5. November: Motiv des Scheiterns
This is the story of one Cambridge boy
Who, despite all his privileges
Felt betrayed by the worldHe saw destruction in every corner of his life
He lost all he thought he could ever love
So he fell to his knees and asked God
"Why must you punish me?
I'm far too handsome to not be in magazines"
But God said nothing to meSo I resigned to my room
And scrolled, weeping, to the bottom of my Instagram
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes