Hallo und einen schönen Sonntag! Es war in der abgelaufenen mal wieder Zeit für ein paar Notizen. Hier sind sie.
Montag, 4. Dezember 2023: Am Ufer des Dnepr
Vor gut zwei Wochen meldete die ukrainische Armee, dass im Süden des Landes der Vorstoß über den Fluss Dnepr auf russisch besetztes Gebiet gelungen sei. Diese wichtige Erfolgsmeldung steht im Kontrast zu dem, was ein beteiligter Soldat der BBC nun anonym darüber erzählt hat. Ich dokumentiere das Protokoll der BBC, weil ich es wichtig finde, diese Schilderungen zu kennen und weil sie auf sehr bewegende Weise illustrieren, was Krieg konkret bedeutet. Hier der übersetzte Text:
“Jeden Tag saßen wir im Wald und waren unter feindlichem Beschuss. Wir waren gefangen. Die Straßen und Pfade waren mit Minen übersät. Die Russen kontrollieren alles. Ihre Drohnen schwirren ständig in der Luft, bereit zuzuschlagen, sobald sie Bewegungen sehen.
Selbst dorthin zu gelangen war schwierig. Die gesamte Flussüberquerung steht unter ständigem Beschuss. Ich habe gesehen, wie Boote mit meinen Kameraden an Bord einfach im Wasser verschwanden, nachdem sie getroffen wurden.
Wir müssen alles selber mit dorthin bringen: Generatoren, Treibstoff und Lebensmittel.
Versorgung war für dieses Gebiet nicht geplant. Kurz gesagt: Versorgung ist das schwächste Glied. Die Russen überwachen unsere Versorgungslinien, deshalb wird es immer schwieriger. Es gibt einen echten Mangel an Trinkwasser. Trotz unserer Lieferungen per Boot und Drohne.
Wir haben für einen Großteil unserer Ausrüstung selbst bezahlt, Generatoren, Powerbanks und warme Kleidung selbst gekauft. Jetzt kommt der Frost, und es wird nur noch schlimmer werden.
Die wirkliche Situation wird verschwiegen, also wird niemand etwas ändern. Russen, die wir gefangen nehmen konnten, sagten, ihre Streitkräfte hätten über unsere Landung Bescheid gewusst. Als wir ankamen wussten sie also genau, wo sie uns finden würden. Sie griffen uns mit allem an, was sie hatten: Artillerie, Mörser und Flammenwerfersysteme. Ich dachte, ich würde nie dort rauskommen.
Es gibt kein Vorankommen. Nach anderthalb Monaten haben wir einen kleinen Brückenkopf erobert. Die Funktionäre stellen das als Durchbruch dar. Aber wir hatten keine Ausrüstung, weil sie nicht transportiert werden konnte. Also hatten wir nur Menschen. Und damit kommt man nicht weit.
Nichts hat sich geändert. Wir saßen einfach da und kamen nicht voran, steckten eine Zeit lang im selben Gebiet fest. Niemand kennt die strategischen Ziele. Viele glauben, dass das Kommando uns einfach aufgegeben hat. Die Jungs glauben, dass unsere Anwesenheit mehr politische als militärische Bedeutung hatte.
Wir brauchen Leute, aber ausgebildete Leute - nicht die grünen Jungs, die wir jetzt dort haben. Es welche, die nur drei Wochen Training hatten und nur ein paar Mal schießen waren. Es ist ein totales Chaos.
Vor einem Jahr hätte ich das nicht gesagt. Aber jetzt, tut mir leid: ich habe die Nase voll. Jeder, der freiwillig in den Krieg ziehen wollte, ist schon vor langer Zeit hergekommen. Es ist inzwischen fast unmöglich, Leute mit Geld zu locken. Jetzt bekommen wir die, die der Mobilmachung nicht entkommen konnten. Sie werden darüber lachen, aber einige unserer Marines können nicht einmal schwimmen.
Inzwischen haben die Russen unsere Hauptbrückenkopfe identifiziert und richten ihr Sperrfeuer auf uns, wieder und wieder. Es müssten mehrere Brigaden hier stationiert sein, nicht einzelne Kompanien. Wir haben einfach nicht genug Männer.
Ich kenne Leute, die zehn Tage geblieben sind, aber es gibt auch welche, die einen Monat lang dort waren. Falls man Glück hat und der Kommandant in Ordnung ist und sich um seine Leute kümmert, werden sie ausgetauscht, wenn sie überleben. Aber das passiert nur, wenn der Kommandant eine normaler Mensch ist.
Bald wird es wieder Zeit für mich, den Fluss zu überqueren.”
Dienstag 5. Dezember: PISA
Sicher, die PISA-Ergebnisse sind nur ein Schlaglicht, aber dieser Reddit-Thread hier zeigt ganz gut, woran es im deutschen Schulbildungssystem hapert. Letztlich geht es aber nicht nur um Fragen von Ausstattung und Rahmenbedingungen, sondern auch die Betonung der Funktion von “Selektion” bzw. “Allokation”, also die Verteilung der Lebenschancen nach dem Rüttelsieb-Prinzip. Natürlich: das ist gesellschaftlich gewollt, aber scheint mir irgendwie im Schulwesen viel zu hoch priorisiert (zumal das ja oft genug auch simuliert wird, wenn Klassenarbeiten letztlich so designt werden, das man bei einem Notenschnitt landet, der halbwegs die Interessen von Eltern, Schülern, Kultusministerium und Lehrern entspricht).
Aber ich bin natürlich kein Experte. Mir macht vor allem die sinkende Lesekompetenz Sorgen. Ich bin ein Kind der Gutenberg-Galaxis und befürchte, dass sich unser Medienkonsum weg vom Text, der Komplexität und dem Argument entwickelt, hin zum Bewegtbild, Vereinfachung und Emotionalisierung. Allerdings könnte das auch die altersgemäße Skepsis gegenüber den nachkommenden Generationen sein.
Mittwoch, 6. Dezember: Rache
Robert A. Pape formuliert in Foreign Affairs das Offensichtliche: Mit der aktuellen Bombenkampagne in Gaza wird Israel - neben vielen unschuldigen Toten - vor allem eine neue Generation von Terroristen produzieren.
“Die Luft- und Bodenoperationen Israels haben bis zu 5.000 Hamas-Kämpfer getötet (laut israelischen Offiziellen), von insgesamt etwa 30.000. Aber diese Verluste werden die Bedrohung für israelische Zivilisten nicht wesentlich verringern, da, wie die Angriffe vom 7. Oktober bewiesen haben, nur einige hundert Hamas-Kämpfer ausreichen, um israelische Gemeinden in Verwüstung zu stürzen. Schlimmer noch, israelische Beamte geben auch zu, dass die militärische Kampagne doppelt so viele Zivilisten wie Hamas-Kämpfer tötet. Mit anderen Worten, Israel erzeugt fast sicher mehr Terroristen, als es tötet, da jeder tote Zivilist Familie und Freunde haben wird, die begierig darauf sind, sich der Hamas anzuschließen, um Rache zu üben.”
Weiterhin scheint ein Plan zu fehlen, wo das enden soll. Ich hoffe, es wird am Ende nicht dieser Plan aus dem US-Kongress sein, über den das israelische Medium Israel Hayoum berichtet. Die Idee: Die USA könnten ihre Unterstützungszahlungen für die Länder der Region davon abhängig machen, dass sie Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen. Übersetztes Zitat:
"Der Plan geht sogar so weit, zu planen, wie viele Einwohner von Gaza jedes dieser Länder aufnehmen wird: eine Million in Ägypten (was 0,9 % der dortigen Bevölkerung entspricht), eine halbe Million für die Türkei (0,6 % der Bevölkerung in der Türkei), 250.000 für den Irak (0,6 % der irakischen Bevölkerung) und weitere 250.000 für den Jemen (0,75 % der dortigen Gesamtbevölkerung). Jedes dieser Länder erhält großzügige finanzielle Hilfen von den USA und gemäß dem Plan sollte diese weiterhin nur unter der Bedingung ausgezahlt werden, dass sie Menschen aus Gaza aufnehmen."
Wer rechnen kann: Die Aufnahmekontingente entsprechen in Summe der Einwohnerzahl des Gaza-Streifens. Letztlich ginge es also um die Finanzierung einer ethnischen Säuberung. Gut, dass das bislang nur aus dem US-Kongress kommt und nicht aus dem Weißen Haus.
Donnerstag, 7. Dezember: Einbürgerung
Ich bin nicht begeistert von dem Erlass aus Sachsen-Anhalt, die Einbürgerung an das Bekenntnis zur Existenz Israels zu knüpfen. Das liegt vor allem daran, dass ich kein Freund tagespolitisch getriebener Symbolpolitik bin.
Einerseits. Andererseits haben heute die NPR-Nachrichten die neuen Einbürgerrungsregeln aus Sachsen-Anhalt vermeldet. Und ich muss sagen: Wenn man das Ganze aus internationaler Perspektive sieht, klingt es gerade genau wie das Richtige.
Freitag, 8. Dezember: Ippen
Ippen entlässt drei junge Mitarbeitende noch in der Probezeit, nachdem sie an einem Warnstreik bei der Frankfurter Rundschau teilgenommen haben. Wer den Verlag kennt, ist jetzt nicht unbedingt überrascht. Mal sehen, wer als erstes sinnlosen KI-Content mit imaginären Autorenprofilen produzieren lässt, um Stellen einzusparen: Ippen, der Berliner Verlag oder Funke für “Der Westen”.
Samstag, 9. Dezember: Globalgeschichte
Richtig gute deutsche Sachbücher sind selten - und nicht selten teuer. Das gilt auch für Wolfgang Behringers “Der große Aufbruch - Globalgeschichte der frühen Neuzeit” (Verlag C. H. Beck) 48 Euro, das ist selbst für diesen Wälzer ein ziemlich hoher Kilopreis. Allerdings könnte es sich der Kauf lohnen: Denn der Leseprobe nach zu urteilen ist das wirklich der Versuch, die das 15. bis 18. Jahrhundert in seinen globalen Zusammenhängen und aus den unterschiedlichsten Perspektiven darzustellen. Verlockend.
Sonntag, 10. Dezember: Zwei Coverversionen
Bis zum nächsten Mal (wann auch immer das sein wird)!
Johannes