Wie war 2023? 99 Prozent der Menschheit dürfte vermutlich mit "komplex und herausfordernd" antworten, und doch würde das die Lage nicht ganz adäquat beschreiben. Denn wer sich das Zeitgeschehen ansieht, kann sich des Eindrucks kaum erwehren: Hier fährt gerade etwas ziemlich "im Handkörbchen zur Hölle", wie man im Englischen so schön sagt.
Nun könnten die Sorgen, die sich aus dem Weltgeschehen und den Entwicklungen unserer Biosphäre ergeben, zu einem Fokus auf die positiven Dinge im persönlichen Umfeld führen. Das klappt leider nicht so wirklich, zumindest nicht bei mir. Worin ich aber in diesem Jahr aber besser geworden bin: Im persönlichen Bereich zwischen temporären und bleibenden Sorgen zu unterscheiden, und auch bis zu einem gewissen Grad die Unlösbarkeit einiger Probleme zu akzeptieren. Denn eine Erkenntnis des Älterwerdens lautet ja: Es gibt Sorgen, aber auch Fragen, die einen begleiten und die man nicht (auf)lösen kann. Die einzige Möglichkeit bleibt, sie wie ein vertrautes Haustier zu streicheln.
Apropos Älterwerden: Die 40er sind ja durchaus eine etwas rauere Lebensphase, wobei ich mir das noch schlimmer vorstellen könnte, als es bislang wahr. Klar, Gesundheit ist irgendwie immer ein Thema und jeder tut, was er und sie kann, um nicht zu einer Nummer in unserem überlasteten Behandlungssystem zu werden. Dafür bin ich am dankbarsten: Dass mir größere Gesundheitskrisen bislang erspart geblieben sind.
Psychologisch heikel finde ich dagegen die wachsende Zahl von Momenten, in denen ich merke: Huch, Selbst- und Fremdwahrnehmung sind ja völlig unterschiedlich. Dieses Gefühl, irgendwo noch ein Irgendwas-Ende-Zwanzigjähriger zu sein, während die Realität sagt: Mein Freund, du bist schon seit mehr als 15 Jahren nicht mehr Ende 20 und Du bist auch nicht der Mensch von damals und das wissen die anderen - und es wird Zeit, dass du das auch selber merkst.
Kein Witz übrigens: Ich habe mich glaube ich noch nie so alt gefühlt wie beim Gucken der recht gelungenen ARD-Doku über VIVA. Tröstlich allerdings: Ich mich zuletzt selten so jung gefühlt wie im Publikum beim Depeche-Mode-Konzert in Berlin.
Am Ende von 2023 denke ich natürlich auch an Berti, der gestorben ist. Und auch an Marian T. Wirth. Auch das gehört mit einer wachsenden Zahl von Lebensjahren dazu: Man hat mehr Berührungspunkte mit dem Tod.
Das Zeitgeschehen möchte ich jetzt hier nicht größer ausbreiten. Nur so viel: Deutschland entwickelt sich in meinen Augen weiterhin stetig zu einem Land, das gesellschaftliches Zusammenleben als Nullsummenspiel wahrnimmt. Dabei wird immer sichtbarer, wie verfestigt unsere lange versteckten Klassenstrukturen sind. Der politische Kulturkampf, in dem es viel um Schubladen und Klischees geht, fügt dem um eine weitere, eine kommunikative Dimension der Abschottung hinzu. Eine Gesellschaft, die einerseits eine Tradition der Konsensfindung pflegt, in der sich aber inzwischen ein relevanter Teil in Erzählungsbunkern verschanzt, wird nicht in der bisherigen Form funktionieren können.
Nun aber zu den schöneren Dingen. Musik zum Beispiel: Ich finde es weiterhin fantastisch, neue Musik aus vielen verschiedenen Genres entdecken zu dürfen. Meine entsprechende Jahresplaylist findet sich bei Spotify. In diesem Jahr war ich außerdem auf so vielen Konzerten wie seit meiner Zeit in Austin nicht mehr (Yeah Yeah Yeahs, PJ Harvey, Wu-Tang Clan, Cable Ties u.v.m.). Angesichts der exorbitanten Ticketpreise ist das meist ein absurder Luxus, aber einer, der es mir wert ist.
In Sachen schöner Literatur sieht die Bilanz nicht ganz so erfreulich aus - zwölf Romane wollte ich in diesem Jahr lesen, am Ende sind es nur neun geworden. Und zwar (in chronologischer Reihenfolge):
Gabrielle Zevin: Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow Eine Geschichte des Erwachsenwerdens und der Freundschaft im Games-Milieu, die mich emotional mitgenommen hat.
Joseph Roth: Radetzkymarsch Ein Klassiker über den Niedergang der KUK-Monarchie, dessen Lektüre ich überhaupt nicht bereut habe.
Alice Zeniter: The Art of Losing Eine Geschichte über Einwanderung, Herkunft und Frankreichs Kolonialgeschichte, erzählt über drei Generationen. Im Rückblick das beste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe.
Andrew Sean Greer: Less Netter Unterhaltungsroman, der 2018 den Pullitzer-Preis gewonnen hatte (mir sind die Kriterien für Belletristik dort nicht ganz klar, zumindest aus "Less" nicht klar geworden).
Stendhal: Die Kartause von Parma Stendhal verpatzte zwar verlässlich seine Roman-Enden, aber der Rest ist wahrscheinlich Frankreichs größter Beitrag zur Weltliteratur.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Leopard Noch ein Klassiker, noch eine Niedergangsgeschichte, die zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert spielt (ich erkenne ein Muster). Auch hier: ich habe keine Sekunde die Lektüre bereut.
Arnold Stadler: Irgendwo. Aber am Meer. Lest dieses Buch nicht, es sei denn, ihr habt einen ähnlichen Fetisch für Sprachspiele wie der Autor.
Thomas von Steinaecker: Die Privilegierten Das einzige Buch in der Liste, das 2023 erschienen ist. Ein ambitionierter Roman über meine Generation, der zwar einige kluge Beobachtungen liefert, leider aber nicht so wirklich einfängt, wo wir falsch abgebogen sind.
Michel Houellebecq: Vernichten Seit fast 20 Jahren mal wieder einen Houellebecq gelesen. Literarisch keine Sensation mehr, aber trotz der etwas ziellosen Handlung habe ich "Vernichten" gerne gelesen.
Zu Filmen und Serien kann ich gar nicht so viel sagen: Die letzte Succession-Staffel war nicht so brillant wie die anderen, aber die letzten Folgen haben mich etwas versöhnt. White Lotus (Staffel 2) hat ebenfalls durch das Ende gewonnen. Darüber hinaus habe ich nur ausgewählt geguckt, war bei Oppenheimer und ein paar anderen Filmen sogar im Kino. Aber freie Abende sind außerhalb des heute-journals in der Regel keine Bewegtbild-, sondern Lese-Abende mit viel journalistischem Schwarzbrot-Text.
Und da wäre natürlich noch das "Social Web", das ja weder Social noch klassisches mehr Web ist: Ich habe ziemlich früh mit X/Twitter endgültig Schluss gemacht, nachdem ich schon länger kaum noch gepostet hatte. Gute Entscheidung, zumindest für mich. Die ganze Zersplitterung der Plattformen und meine Sorge um das textbasierte Web beschreibe ich ja in meinem Digitalnewsletter immer wieder. Persönlich macht mir Reddit im Moment als einzige Plattform wirklich Spaß, auch wenn ich mir angesichts der Anti-Community-Strategie des Firmenmanagements ein bisschen die Nase zuhalten muss. Und auch wenn jetzt wieder davon geredet wird, dass das alles eine Chance für das offene Web ist, habe ich mich von dieser Illusion verabschiedet. Bloggen bleibt etwas für die Nische, auch wenn ich mir natürlich mehr Beiträge für 2024 vornehme.
Und damit wären wir auch schon fast im Jahr 2024: Ich habe keine Ahnung, was mich, Euch, uns erwartet. Ich wünsche uns und den Menschen, die wir lieben und schätzen jedenfalls vor allem eines: Gesundheit. Und der Welt, dass es vielleicht ein bisschen weniger nach Niedergang aussieht und wir Ende 2024 weniger bewaffnete Konflikte zählen müssen. Denn das könnten eigentlich gute Zeiten sein.
In diesem Sinne: Wir lesen uns drüben!
Johannes