Hallo zu den Notizen aus der vergangenen Woche. Mir kommt es vor, als wären wir in der ersten Trick-Phase des Berliner Winters: Also die Zeit irgendwann mitten im Winter, in der man plötzlich merkt, das die Tage länger und heller werden. Um dann kurz darauf mit Trübheit und Kälteeinbruch für mögliche Frühlingsgedanken bestraft zu werden (nächste Trick-Phase ist dann der angetäuschte Frühling im März). Wie auch immer: Viel Spaß beim Lesen, die Einträge finden sich auch jeden Abend in meinem Blog, naja, sofern ich halt blogge (per RSS abonnierbar).
Montag, 22. Januar 2024: Was folgt jetzt?
Die Frage, die in den vergangenen Tagen immer mal wieder mitschwang: Was wird aus den Protesten gegen Rechtsextremismus, wie werden sie politisch aufgefangen, welche Strukturen entwickeln sich aus ihnen?
Ich habe keine schlüssige Prognose. Als eine offenbar relativ heterogenen Gruppe erscheint die Möglichkeit der Mobilisierung „für“ statt „gegen“ etwas nicht realistisch. Selbst eine Form von regelmäßigem zivilgesellschaftlichen Engagement lässt sich aus der Kanalisierung von Befürchtungen und akutem Demokratiebewusstsein nicht ableiten.
Und auch die demokratischen Parteien bieten zumindest im Moment keine positive Projektionsfläche. Nicht, was die Glaubwürdigkeit (oder teilweise die Existenz) ihrer Zukunftsvisionen anbelangt; schon gar nicht, was ihre Kompetenz betrifft. Und mit zugehaltener Nase etwas zu wählen, um etwas anderes zu verhindern, ist – siehe USA, siehe Frankreich – weder besonders attraktiv, noch eine Dauerlösung.
Dienstag, 23. Januar: Wo wir herkommen
“Die große Aufgabe jeder Kunst, die sich um einen bestimmten Ort dreht, ist es ehrlich zu sein. Viele von uns neigen zum Romantisieren, wenn wir über den Ort schreiben, aus dem wir gekrochen kamen. Vielleicht, weil wir das Gefühl haben, ihm etwas zu schulden – selbst wenn er uns mehr weggenommen als mitgegeben hat.
Die Berufung, ehrlich zu sein, wird etwas undurchschaubarer, wenn wir uns ehrlich machen. Ehrlich darüber, dass wir die Orte, die wir immer als unsere eigenen beansprucht haben, gar nicht lieben.”
Hanif Abdurraqib: Under Half-Lit Fluorescents: The Wonder Years’ ‚Suburbia‘, 5 Years Later (2016, Zitat übersetzt von mir)
Mittwoch, 24. Januar: Trumps Unterhose brennt
Obige Überschrift aus dem US-Wahlkampf 2016 ist vielleicht die schönste, die ich in meiner journalistischen Karriere jemals texten durfte. Bei den ernsten Typen von der Zeitung wäre so etwas nie erschienen, aber wir bei SZ.de liebten (und brauchten) diese Morgen-Aufmacher. Und auch der Einstieg des zugehörigen Artikels zeigt, dass ich damals sprachlich ganz gut in Form war:
„Wenn amerikanische Kinder einen Lügenbold auf frischer Tat ertappen, rufen sie oft „Liar, liar, pants on fire!“ Würden Lügen im Wahlkampf 2016 (Unter)hosen entflammen, Donald Trumps schillernder Leibarzt müsste wahrscheinlich „leidet unter chronischen Verbrennungen am Hintern“ in der Krankenakte des Kandidaten vermerken.“
Mir ist bewusst, dass es ernstere Zeiten sind. Aber ich vermisse diesen Sound. Nicht nur bei mir, sondern überall.
Donnerstag, 25. Januar: Klimatismus
Interessante Buchrezension im New Atlantis (einem unterschätzten Magazin): Der Cambridge-Klimatologe Mike Hulme führt in seinem Buch „Climate Change Isn’t Everything“ den Begriff des „Klimatismus“ ein. Seine Definition von Klimatismus (via):
„Die Ideologie – der feste Glaube – dass die vorherrschende Erklärung aller sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Phänomene eine vom Menschen verursachte Veränderung des Klimas ist. Komplexe politische, sozioökologische und ethische Probleme und Herausforderungen werden nur dann als gelöst oder angemessen bewältigt angesehen, wenn zunächst die menschlichen Ursachen für Klimaveränderungen angegangen werden.“
Hulme ist kein Klimawandel-Leugner (immerhin war er auch Teil des IPCC). Er hat vielmehr ein Problem damit, wenn a) dem Klimawandel fast alle Probleme zugerechnet werden und b) Klimapolitik guter Politik im Wege stehen.
Ein Beispiel für a) ist die Theorie, dass der Klimawandel (in Form einer Dürre) für den Aufstand gegen Syriens Diktator al-Assad verantwortlich ist. Ein Beispiel für b) ist die europäische Richtlinie zu erneuerbaren Energien von 2010.
Darin wurde festgelegt, dass bis 2020 zehn Prozent des verbrauchten Benzins aus erneuerbaren Energien kommen sollte (siehe E10, Biodiesel etc.). Was unter anderem dazu führte, dass dafür als nachwachsender Rohstoff Palmöl verwendet wurde, was wiederum zur Abholzung des Regenwalds auf der indonesischen Insel Sumatra beitrug (2020 wurden 58 Prozent der europäischen Palmöl-Exporte für Biokraftstoffe verwendet, 2021 beschloss die EU, Palmöl bis 2030 nicht mehr als Biokraftstoff-Rohstoff zuzulassen, in Deutschland ist das Verbot seit 2023 in Kraft).
Der Klimawandel ist vielleicht das zentrale Problem, aber nicht das einzige. Und in seiner Komplexität ist es nicht einfach zu lösen, schreibt der Rezensent weiter:
„Unterschiedliche Menschen sollten und werden unterschiedliche Werte haben und unterschiedliche Antworten finden, denn die Wissenschaft hat keine Antwort auf die Frage, wie viele Prozentpunkte des BIP-Wachstums das Aussterben einer Meereskorallenart wert ist oder ob der Schutz amerikanischer Bundesländer aus der Urangewinnung, aber dann ist es klug, das Mineral aus China kaufen zu müssen.
Daher schlägt Hulme vor, dass wir einen „Wertepluralismus“ akzeptieren, der den Klimawandel als real, aber dennoch als ein Problem unter vielen ansieht und sich weigert, ihn entweder als Apokalypse, ähnlich einem herannahenden Asteroiden, oder als Betrug darzustellen, sondern ihn stattdessen als ein gewaltiges Problem behandelt, das Milliarden von Menschen auf unterschiedliche Art verstehen und lösen möchten.“
Vielleicht wäre das Buch stärker rezipiert worden, wenn es nicht im Hitzerekord-Sommer 2023 erschienen wäre. Ich hätte mir auf jeden Fall größere Aufmerksamkeit und eine entstehende Debatte dazu sehr gewünscht.
Freitag, 26. Januar: Systemschäden
„Unser System muss kaputt gemacht werden. Und er ist derjenigen, der es tun kann.“ Das sagt ein Wähler aus New Hampshire, den Politico porträtiert hat. Jetzt Trump, früher zweimal Obama.
Und in diesem Gastartikel versetzt sich der Reform-Aktivist Philip K. Howard in die Rolle frustrierter Wähler (übersetzt):
„Die Regierung sagt uns, was wir tun sollen und wie wir es tun sollen, ohne ihre eigene Arbeit besonders gut zu machen. Migration ist außer Kontrolle. Der Arbeitsplatz ist ein Dickicht von Regeln. Haben Sie Ihr DEI- [Diversity, Equity and Inclusion, jk] und Anti-Belästigungs-Training abgeschlossen? Sind Ihre Unterlagen in Ordnung? Seien Sie bitte nicht Sie selbst: Sie möchten nicht, dass sich jemand „unsicher“ fühlt.
Washington ist schlechtes Theater, als würde man in einer Endlosschleife Unwahrheiten beobachten. Zumindest ist Trump unterhaltsam. Kennen Sie den [Witz] schon: Elite-Universitäten sind Leuchttürme der freien Meinungsäußerung? Oh, und vergessen Sie nie, dass die meisten von Ihnen Fanatiker sind, die Nutznießer weißer Privilegien – selbst wenn Sie sich mit zwei Jobs bis auf die Knochen runter arbeiten und immer noch Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen.“
Ich bin dagegen, amerikanische Verhältnisse auf Deutschland zu übertragen. Jede/r kann selbst jedoch überlegen, was davon inzwischen auch äquivalent in Deutschland zu hören ist. Nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte.
Howard skizziert auch eine Gegenstrategie: Denn Trump habe nichts außer „reißt es nieder“ zu bieten, keine Idee, was die gegenwärtige Ordnung ersetzen könnte. Genau diese Lücke zu schließen, wäre ein politischer Ansatzpunkt, Menschen von einer anderen politischen Herangehensweise zu überzeugen.
Was mich zu meinem Credo bringt, das ich häufiger hier formuliere: Die demokratischen Parteien täten gut daran, Ideen für Demokratiereformen in Sachen Struktur, Transparenz, Verantwortlichkeit sehr viel höher priorisieren, als sie es bislang tun. Und sie sollten sie vor allem umsetzen.
Die Ampel-Parteien hatten einige kleine Ideen dazu im Koalitionsvertrag festgelegt, fast nichts davon wurde jenseits symbolischer Pilotprojekte umgesetzt.
Samstag, 27. Januar: links, linker
Die Antifa protestiert gegen das „Bündnis Sahra Wagenknecht“, das derzeit vorwiegend aus Ex-Linken besteht, aber nicht links sein möchte.
Ich kann mich auch noch erinnern, als genau jene Nicht-mehr-Linken den Weiterhin-Linkspartei-Linken vorgeworfen haben, linke Politik zu verraten.
Sind die Nicht-Linken also die wahren Linken, oder die weiterhin-Linkspartei-Linken, weil sie ja ihre Position nicht verändert haben und nie abstreiten würden, links zu sein?
Was den beliebten Witz ins Gedächtnis ruft: Wie vermehrt sich die Linke? Sie spaltet sich.
P.S: Was mir besonders gut an dem Foto gefällt: Die Gendersprache (sollte sie eine feine Provokation sein).
Sonntag, 28. Januar: Hayden Pedigo
Amarillo, Texas, liegt in der Mitte zwischen Albuquerque und Oklahoma City und ansonsten ziemlich weit weg von allem. Ich habe unseren Besuch dort in guter Erinnerung, die Cadillac Ranch und meine einzige Begegnung mit der Route 66, die allerdings wenig spektakulär ausfiel.
Hayden Pedigo stammt aus Amarillo und ist ein außergewöhnlicher Künstler. Ich wurde Anfang 2019 durch seine Kampagne zur Stadtratswahl auf ihn aufmerksam – seine experimentellen Wahlwerbespots wurden kleine virale Hits.
Über seine Kampagne ist auch ein Dokumentarfilm erschienen, der das Don-Quijote-artige seines Versuchs zeigt, die völlig vermachteten Strukturen des Stadtparlaments zu entblößen.
Hayden Pedigo ist aber nicht nur Avantgarde-Künstler und Aktivist, sondern auch Musiker. Seine Gitarrenmusik lässt sich schwer einordnen, ist aber eindeutig mit der Landschaft verknüpft.
Dieser Tage kommt Pedigo das erste Mal auf Europatour. Die deutschen Tourdaten:
30. Januar 2024: Berlin (Gretchen)
6. Februar: Hamburg (Kulturpalast)
18. Februar: Jena (Trafo)
Wer kann, sollte hingehen.
Bis zum nächsten Mal!
Johannes