#24 Die Schlange und das Rad
Inkrementalismus, Selenskyj und die Patronatsdemokratie, Lenin in Tampere
Hallo - eine weitere Woche endet, eine weitere Woche kündigt ihren Beginn an.
Montag, 29. Januar 2024: Die Schlange und das Rad
Gestern überquerte eine Schlange in der Abenddämmerung die Straße.
Von einem Reifen zerquetscht, krümmte sie sich auf dem Asphalt.
Wir sind sowohl die Schlange als auch das Rad.
Czeslaw Milosz: A Treatise On Poetry IV
Dienstag, 30. Januar: Inkrementalismus
Inkrementalismus, also das „Bohren dicker Bretter“ oder auch das zurückhaltende Reformieren der Verhältnisse, ist derzeit auch in der Kompromiss-Nation Deutschland schlecht beleumundet.
Die Konservativen beäugen ihn inzwischen skeptischer, die Reaktionären lehnen ihn ab, sobald seine Effekte irgendwie spürbar sind. Die Progressiven wiederum verlieren angesichts der Klimakrise die Geduld und befürchten, dass er zur Lösung unserer Krisen nicht genügen wird. Überschneidung gibt es dort, wo aus der Ablehnung des Inkrementalismus eine Systemablehnung wird.
Mittwoch, 31. Januar: Selenskyj und die Patronatsdemokratie
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird, das lässt sich wohl sagen, in Deutschland durchaus verklärt. Das könnte sich jetzt langsam ändern: Der – offenbar politisch motivierte – Machtkampf mit seinem Generalstabschef Walerij Saluschnyj offenbart, was in den vergangenen Monaten immer mal wieder anklang: Eine Regierung, die immer stärker Macht an sich zieht. Und wenn Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sagt, er habe Selenskyj seit dem Ausbruch des Kriegs kein einziges Mal getroffen, ist das kein gutes Zeichen.
Masha Gessen hat für den New Yorker vor wenigen Tagen ein Porträt der ukrainischen Gesellschaft, inklusive der politisch Handelnden gezeichnet. Auch hier wird deutlich erkennbar, dass die Ukraine eine Patronatsdemokratie ist, die sich aber mit einer stärkeren Zentralisierung in eine noch problematischere Richtung entwickeln könnte.
Wie sich Selenskyjs politischer Stil und sein Ansehen zuhause, aber auch im Westen weiter entwickeln, werden wir sehen. Ich hoffe aber, dass wir künftig auf Basis eines nuancierten Bilds der Ukraine, ihrer politischen Strukturen und gesellschaftlichen Reibungspunkte diskutieren.
Donnerstag, 1. Februar: Lieblingsliste Januar
Freitag, 2. Februar: Schwarzwurst und Freiheit
Tampere ist eine Stadt im Westen Finnlands, die durchaus mondän ist und auch sonst ihre Reize hat. Unter anderem das Lenin-Museum, von dem ich bis zu dieser BBC-Radiosendung gar nichts wusste.
Hintergrund: In Tampere trafen 1905 zum ersten Mal Lenin und Stalin aufeinander. Seit 1946 gibt es deshalb dort ein Lenin-Museum, inzwischen das einzige außerhalb Russlands (und leidet seit dem russischen Angriff auf die Ukraine unter Publikumsmangel).
Über Lenin ist die Anekdote überliefert, dass er während seines Besuchs auf einen der Marktplätze von Tampere ging und dort eine Schwarzwurst (Blutwurst) aß. Die schmeckte ihm so gut, dass er ausgerufen haben soll: „Menschen, die eine solche Delikatesse herstellen, verdienen die Unabhängigkeit!“ So kam es dann auch, gerade einmal zwölf Jahre später.
Der Wahrheitsgehalt dieser Anekdote ist nicht überliefert. Schwarzwurst gilt allerdings in Tampere weiterhin als Delikatesse.
Samstag, 3. Februar: Symbiose
„Die konservative Perspektive betrachtet die individualistischen und die beziehungsorientierten Aspekte des Menschseins als symbiotisch. Die zentrale Kritik des Konservatismus – sowohl am Liberalismus als auch am Sozialismus – besteht darin, dass deren unvollständige Perspektive diese Symbiose ignoriert.“
James Vitali: The social self (The Critic, 2023)
Aus dieser Perspektive könnte man hierzulande natürlich auch weite Teile der gegenwärtigen Sozialdemokratie wie auch einen Großteil der Grünen als konservative Parteien deuten. Was sicher nicht völlig falsch ist, aber auch nicht für die allgemeine Gültigkeit der aufgestellten Gegensätze spricht.
Sonntag, 4. Februar: Modern People
Bis zum nächsten Mal!
Johannes