Hallo zu einer neuen Ausgabe!
All In: Die erste Merzwoche?
Irgendwann 2021 habe ich zu einer Kollegin gesagt: “Ich gehe davon aus, dass die AfD natürlich irgendwann an einer Bundesregierung beteiligt sein, aber wahrscheinlich eher Anfang der 2030er.”
Diese etwas apodiktisch dahingesagte Prognose speiste sich aus der Erfahrung, dass sich bislang kein europäisches Land den neuen Rechten entziehen konnte. In der zweiten Hälfte der Zehnerjahre gab es bekanntlich Debatten darüber, ob Portugal und Spanien durch die relativ nahe zurückliegende Diktatur-Erfahrung immun gegen rechtsreaktionäre Parteien seien. Wenig später saßen sie im Parlament. Und die Erfahrung aus dem uns parlamentarisch ähnlichen Österreich lehrt: Die Stagnation, die durch großkoalitionäre Bündnisse gegen die FPÖ entstand, führte irgendwann zu einem bürgerlich-reaktionären Bündnis.
Das ist natürlich etwas eindimensional, denn es gibt auch so etwas wie Gelegenheitsfenster. Die können sich öffnen, aber auch wieder schließen, wenn der Zeitgeist in eine andere Richtung geht.
Friedrich Merz und die Union haben dafür gesorgt, dass die AfD womöglich im passenden Moment durch das Gelegenheitsfenster schlüpfen kann. Zuerst allerdings in den Ost-Ländern. Sofern der Zeitgeist in den nächsten Jahren tatsächlich konservativ, rechtsmittig und in Teilen auch rechtsradikal bleiben wird (wovon ich erstmal ausgehe).
Der politische Preis könnte nicht nur für dieses Land, sondern auch für die CDU hoch sein - die Einheit von West- und Ost-CDU ist keine gottgegebene, die Geschlossenheit sowieso nicht.
Was auch immer passieren wird: Alles ist, so legt es diese Rekonstruktion im Stern nahe, das Resultat unprofessionellen Verhaltens. Ein emotionalisierter Friedrich Merz, der in der Präsidiumsschalte am 23. Januar offenbar spontan den Vorschlag zur Abstimmung über die Anträge macht; ein Parlamentarischer Geschäftsführer (und wohl künftiger Kanzleramtschef) Thorsten Frei, der die Lage nicht erkennt beziehungsweise fälschlicherweise als unproblematisch deklariert, weil er davon ausgeht, dass für eine direkte Abstimmung über Anträge eine (auch mit der AfD nicht erreichbare) Zweidrittelmehrheit nötig ist. Und dann ist da noch der Rest des CDU-Präsidiums, der dem großen Vorsitzenden nicht widerspricht.
Vieles, was dann passiert, lässt sich aus diesem Abend und der vorangehenden Ankündigung Merz’ ableiten, die Migrationspolitik kompromisslos und wie ein quasi-präsidialdemokratischer Macher anzugehen. Seit dem 24. Januar war alles, was die Union tat, bei genauerer Betrachtung nur der Versuch, eine Kurzschlusshandlung wie eine politische Strategie aussehen zu lassen.
Friedrich Merz wird als Kanzler und wichtigster Akteur der Exekutive eine beachtliche Lernkurve hinlegen müssen, damit solche Fehler nicht mehr passieren. Zweifel, ob ihm das gelingen wird, sind angebracht. Oder gab der Friedrich Merz aus dieser Woche, der auch die ihm oft nachgesagte Dünnhäutigkeit zeigte, womöglich sogar einen Vorgeschmack auf die kommenden vier Jahre? “Was auch immer Du tust, bedenke das Ende”, ist kein Ratschlag, sondern die einzige politische Überlebensstrategie für einen Kanzler der Mitte. “My way or the highway” ist es nicht.
“Es muss einfacher werden”, die Migrationspolitik und Europa
Ich will auch kurz auf die Unionsforderung nach zeitlich unbegrenzten Grenzkontrollen und Abweisungen aller Geflüchteten eingehen: Die ist nach Aussage der meisten Juristen nicht mit Europarecht vereinbar.
Die Anwendung der Notlage, die nach Artikel 72 des EU-Arbeitsweisevertrags erklärt werden würde, wurde vom EuGH bislang immer gekippt und insgesamt sehr restriktiv ausgelegt. Selbst der Europarechtler Daniel Thym bezieht sich bei seinem Hinweis, “theoretisch” könnte der EuGH die deutsche Anwendung von Artikel 72 billigen, vor allem darauf, dass die Richter zwar hohe Hürden setzen, aber eben theoretisch irgendein Fall einmal die Voraussetzungen erfüllen könnte.
Soweit die Rechtsfragen. Die politische Praxis sieht anders aus. Damit argumentiert ja auch die Union, wenn sie erklärt, dass andere Länder das alles schon lange machen.
Der Spiegel (€) schreibt dazu:
“Es gibt zahlreiche Fälle, in denen Mitgliedstaaten an ihren Grenzen EU-Regeln missachten, sowohl an den EU-Außengrenzen als auch innerhalb des Schengenraums. Selten müssen sie Sanktionen oder andere ernsthafte Konsequenzen fürchten.
Frankreich weist schon seit Jahren Geflüchtete an der Binnengrenze zu Italien zurück. Der Europäische Gerichtshof hat das Vorgehen 2023 für rechtswidrig erklärt, französische Gerichte haben ähnlich geurteilt. Dennoch setzt die Regierung die Praxis fort.
Für die Einhaltung europäischer Gesetze hat vor allem die EU-Kommission als “Hüterin der Verträge” zu sorgen. Sie kann Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn Mitgliedstaaten sich nicht an die Regeln halten. Meistens bleibt es jedoch bei Mahnungen, selbst bei eklatanten Rechtsbrüchen an den Außengrenzen.”
Die Welt am Sonntag (€) wiederum hat die von Merz und Frei genannten Länder überprüft - am ehesten sei Dänemark ein Vorbild, das ist aber nicht an die EU-Asylregeln gebunden. Und am aktuellsten ist der Fall Finnland:
“Die finnische Regierung stellt die europäische Asylpolitik auf die Probe. Im Juli erlaubte sie die Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze zu Russland – anders als im Fall Deutschlands eine EU-Außengrenze – ohne Prüfung des Asylanspruchs und notfalls mit Gewalt. Solche Pushbacks verstoßen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, das EU-Asylrecht und auch gegen die finnische Verfassung.
Die Regierung begründete die Verschärfung mit Bedenken um die nationale Sicherheit: Russland habe gezielt Migranten an die Grenze geschickt, um das Land zu destabilisieren. Tatsächlich waren 2023 plötzlich Tausende Menschen ohne Visum an den Grenzübergängen aufgetaucht.
Die EU hat offenbar beide Augen zugedrückt. Das Gesetz wird zwar geprüft; öffentliche Kritik oder gar Sanktionen gibt es bisher aber keine.”
Und der Economist (€) schreibt zu der ständigen Verlängerung von Grenzkontrollen (übersetzt):"
“In einigen Ländern ist die Ankündigung “vorübergehender” Kontrollen zu einem Ritual geworden, das sich alle sechs Monate wiederholt. Frankreich hat seine Grenzkontrollen im Oktober erneuert, nachdem es sie zuvor aus Angst vor Terrorismus während der Olympischen Spiele in Paris eingeführt hatte; in der Tat sind sie in irgendeiner Form seit den Terroranschlägen in Paris im Jahr 2015 in Kraft. Österreich hat die eine oder andere Version seit der europäischen Migrantenkrise im selben Jahr in Kraft gesetzt. Doch Autofahrer, die von Brüssel nach Lille oder von Prag nach Linz fahren, werden kaum etwas davon sehen. (…) Einige Beamte der Europäischen Kommission betrachten diese vorübergehenden Grenzkontrollen als relativ harmlose politische Gesten der nationalen Regierungen. Sie signalisieren den Wählern, dass die nationalen Regierungen die irreguläre Migration ernst nehmen.”
Heißt einerseits: Es gibt kein vergleichbares EU-Land, das wirklich an all seinen Grenzen das umsetzt, was Merz offiziell plant. Zugleich ließe sich aber auch sagen: Was CDU/CSU wollen, mag zwar europarechtswidrig sein - aber es gibt eben einen Graubereich, der Spielräume schafft.
Nun ist das Argument “Wenn Frankreich das Recht bricht, können wir das doch auch” keines, das Juristen überzeugt. Oder einer Partei wie der CDU, die für Recht und Ordnung stehen möchte, gut zu Gesicht steht. Es liegt aber im Zeitgeist.
Denn es gibt einen Satz, hinter dem sich die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler versammeln kann:
“Es muss wieder einfacher werden.”
Dieser Satz kann mit Blick auf die Bürokratie hierzulande interpretiert werden oder kulturell und nostalgisch, auch reaktionär. Er kann je nach Wählerschaft zum Ukraine-Krieg und auf die Alltagssorgen passen; auf den genaueren Blick in den eigenen Geldbeutel durch die Folgen der Inflation, auf das fehlende Sicherheitsgefühl, auf die Kitaplatz-Suche, auf die unübersichtliche Weltlage, auf digitaltechnologische Entwicklungen, auf die schlechter werdende physische Infrastruktur dieses Landes und auch auf das überlastete Gesundheitswesen.
Dieses “Es muss einfacher werden” bedienen viele Parteien. Und zugleich lässt sich dieser Wunsch auch so interpretieren, dass wir es nicht mehr so genau nehmen sollten. Deutschland nicht alles so kompliziert machen, die rechtlichen EU-Vorgaben nicht immer übererfüllen muss. Sei es in der Regulierung - oder eben in der Migration. Insofern ist es kein Zufall, dass Merz jemanden wie Hans-Jürgen Papier zum Gewährsmann für seine Asylpläne macht, der relativ deutlich eine Priorisierung von nationalstaatlichem gegenüber europäischen Recht vertritt.
Aber die Europäische Union basiert inzwischen im Kern natürlich nicht nur auf einem gemeinsamen Binnenmarkt, sondern auf kollektiver Verrechtlichung. Die Merz-Bewegung deutet deshalb auch auf eine massive anstehende Verschiebungen des europäischen Fundaments hin.
Bis zum nächsten Mal!
Johannes