Hallo, es ist mal wieder einer dieser Newsletter-Sonntage (gesendet vor dem Sonntagsdienst)
Ursache und Wirkung
Das Prinzip von Ursache und Wirkung hält unsere Welt zusammen: Das höchste Ziel der Naturwissenschaften ist es, den Zusammenhang zwischen beidem zu untersuchen. In der Philosophie prägen Ursache und Wirkung spätestens seit Sokrates, wie wir unsere Welt wahrnehmen. Und in den Religionen - von Karma bis zum jüngsten Gericht - ist der unbedingte Zusammenhang von Ursache und Wirkung das vielleicht wichtigste Instrument, um das Verhalten der Menschen zu beeinflussen.
Ursache und Wirkung sind aber komplex, im Fachjargon “multikausal”. Und ihr Verhältnis verändert sich: Unser Zusammenwirken mit Computern lässt sich zum Beispiel nicht mehr mit der Dualität menschlicher Input (Ursache) und computergeneriertem Output (Wirkung) beschreiben.
Denn durch die steigende Rechenkraft und immer komplexere Feedback-Loops (zum Beispiel in Social-Media-Architekturen) ist längst nicht mehr klar, welche Inputs hinter einem Output-Ergebnis stehen. Und wenn wir auf "Künstliche Intelligenz” blicken, wird der Zusammenhang von Ursache und Wirkung noch schwerer aufrecht zu erhalten; die Diskussion über die “Erklärbarkeit” von KI-Ergebnissen ist nichts anderes als der verzweifelte Versuch, überhaupt noch eine menschlich erfassbare “Ursache” für den errechneten Output eines Systems zu finden.
Das vielleicht interessanteste Spannungsfeld zwischen Ursache und Wirkung ist aber gesellschaftlich. Ursache und Wirkung sind die Grundgerüste der Erzählungen, die unsere Gesellschaften zusammenhalten. Hier wird es aber oft besonders heikel.
So setzte sich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik folgendes Narrativ durch: Wenn du hart arbeitest (Ursache), wirst du es zu beachtlichem Wohlstand bringen (Wirkung).
Spätestens seit den 1970er Jahren allerdings tun sich in dieser Erzählung stetig neue Widersprüche auf: Denn harte Arbeit sorgt nicht automatisch dafür, dass das (zugegeben immer anspruchsvollere) Wohlstandsversprechen eingelöst wird.
Die populistische Erzählung dazu (siehe #07) lautet: “Die Eliten erzählen euch, dass harte Arbeit zu Wohlstand führt, aber sie haben eigene Interessen - nämlich durch eine Politik zu eurem Nachteil (Ursache) den Wohlstand weitestgehend untereinander aufzuteilen (Wirkung).”
Das Ganze lässt sich noch mit anderen Narrativen durchdeklinieren. Meine These ist, dass gerade verschiedene politische Erzählungen zu Ursache und Wirkung miteinander konkurrieren, um diese komplexe wie unsichere Zeit mental zu verarbeiten. Und dabei wird der bisherige “Konsens” weit stärker als in den vergangenen Jahren in Frage gestellt. Der Rahmen des Overton-Fensters sind gelockert, und zwar theoretisch auf fast allen Seiten.
Welche gesellschaftlichen Prozesse sich daraus ergeben, wird maßgeblich mit einer Frage zusammenhängen: Akzeptieren wir eine gewisse Komplexität im Zusammenhang von Ursache und Wirkung - oder konstruieren wir monokausale Modelle, in denen das Problem so einfach wie die Lösung erscheint?
China, Sicherheit, Digital: Kann Politik Strategie?
In der vergangenen Legislaturperiode lautete ein Versprechen der heutigen Regierungsparteien Grünen und FDP: Unsere Strategiepapiere werden, anders als bei der GroKo, keine Listen mit zusammengetragenen Projekten mehr sein - sondern echte Handlungsskizzen mit messbaren Zielen.
Tja. Von der Digital- über die Sicherheits- zur China-Strategie sind in diesem Zusammenhang alle Dokumente der neuen Bundesregierung enttäuschend.
Ich habe mich vor einiger Zeit (für einen DLF-Politikpodcast, der dann einem anderen Thema weichen musste) mal ausführlicher mit dem Thema "Politik und Strategiepläne” beschäftigt. Mir ist in diesem Zusammenhang der Satz des ehemaligen britischen Karrierediplomaten Sir Peter Ricketts in Erinnerung geblieben: „Meine Erfahrung ist: Wenn ich das Wort Strategie verwende, fliehen die Politiker erstmal bis sie kurz davor sind, hinter dem Horizont zu verschwinden.“
Ricketts hat die Erfahrung gemacht, dass Politiker einfach nicht auf solche Prozesse vorbereitet sind - auf eine Form von Rundblick auf die Risiken und die Frage, welche Risiken die größten Folgen hätten. Sie gucken eher darauf, was jetzt ansteht, um was sie sich morgen früh kümmern müssen. Und auch Ministeriumsmitarbeiter sind oft nicht für Strategieprozesse geschult.
Ein weiterer Punkt, so Ricketts: Gerade bei Regierungschefs tut man sich schwer mit Priorisierungen, weil man damit jemandem im Kabinett auf die Füße tritt. Und umgekehrt: Etwas wird eher niedrig priorisiert und dann passiert etwas = Kritik und Ministeriumskrise incoming.
Entsprechend sind Strategiepapiere Waschzettel, auf denen in der Regel der Status Quo zusammengefasst und Maßnahmen gleichberechtigt nebeneinander aufgelistet werden, die Sprache bis zur Formelhaftigkeit zwischen den Ressorts glattgebügelt.
Der ganze Prozess ist Erzählungen zufolge auch in den Ministerien kein Vergnügen: Ist die Strategie zu ehrgeizig, lautet der Vorwurf schnell: Ihr lebt im Wolkenkuckucksheim, kümmert euch doch erstmal um die naheliegenden Probleme in dem Bereich. Tut eine Strategie genau das, wird ihr fehlender Ehrgeiz vorgeworfen.
Das alles deutet darauf hin, dass man sich vielleicht darauf einigen könnte: Es gibt einen riesigen Bedarf an politischer Strategie - aber nicht an Strategiedokumenten, die keine Aussagekraft besitzen.
Und, wie es hier bei War On The Rocks beschrieben wird: Der informelle, aber einzige Ort, an dem man eine ehrliche politische Strategie findet, ist der Haushaltsplan einer Regierung.
Streubomben
Ich komme aus einer Generation, die mit folgendem Mantra aufgewachsen ist: Die völlige Abschaffung von Atomwaffen ist angesichts des strategischen Vorteils für ihre Besitzer quasi unmöglich; hier geht es darum, ihren Einsatz zu verhindern. Gleichzeitig muss die Weltgemeinschaft alles dafür tun, Waffen wie Landminen und Streubomben zu ächten, weil sie über Jahre hinweg die Zivilbevölkerung töten und verstümmeln.
Vielleicht ist das der Grund dafür, warum mich die Stimmen aus dem Kommentariat schockieren, die nun im Falle der Lieferung von US-Streumunition an die Ukraine genau diesen vermeintlichen Konsens über Bord werfen.
Die Argumente “Russland nutzt ebenfalls Streubomben, und zwar mit einer größeren Streubreite”, wahlweise auch “hier darf sich nur äußern, wer auch die russischen Streubomben verurteilt” zeigen den ganzen Abgrund, in den der Weg vom moralischen Prinzip zum rücksichtslosen Kriegspragmatismus führt. Er lässt Schlimmes befürchten, was das künftige Verhältnis von Zweck und Mittel in einer angespannten Weltlage angeht. Schon jetzt ganz schlimm im Sinne von unerträglich sind auch die wachsweichen Aussagen von Frank-Walter Steinmeier.
Was das Kriegsgeschehen betrifft, signalisiert die Streubomben-Lieferung, dass die Perspektive für die Ukraine mittelfristig keine gute ist. Ich teile zwar nicht die Einschätzungen des Neorealisten
zu den Gründen für den russischen Angriffskrieg - aber seine sehr düstere Prophezeiung zum weiteren Kriegsverlauf scheint mir nicht ganz abwegig. Ich gehe davon aus, dass noch bis zum Herbst westliche Kampfjets an Kiew geliefert werden.Linktipps
Klima-Anpassung: Der Economist überlegt ($), wie eine geordnete Klima-Migration (“Klima-Mobilität”) aussehen könnte. Die Empfehlung: Von Extrem-Erhitzung betroffene Länder sollten versuchen, ihrer Landbevölkerung Anreize für die Migration in die Stadt zu setzen. Nicht nur wegen dieser Statistik unten interessant, sondern auch das erste “Scrollytelling” seit Jahren, das ich wirklich mit Freude am Format gelesen habe (weil die Grafiken wirklich hilfreich waren).
Die Welt begehen: Das Format der Reiseblogs ist vor einigen Jahren von Influencer-Welle begraben worden. Umso mehr freue ich mich über zwei Entdeckungen: Einmal Chris Arnade, der Reiseberichte über seine Spaziergänge durch die Welt von Duisburg bis Dakar schreibt und einen manchmal schonungslosen, aber doch immer empathischen Blick auf das hat, was er beobacht. Und Matt Lakeman, der seine Reisen der vergangenen Jahre in kleinen Dossiers zusammenfasst. Unvergessene Kotz-Erlebnisse in den Anden inklusive. Finde ich super, dass es so etwas noch/wieder gibt. Und wer dann noch nicht genug hat, kann meine eigene Bloggertramp-Reise als Tramper durch Europa aus dem Jahr 2010 hier nachlesen.
So funktioniert Olaf Scholz. Launiges Psychogramm in der FAZ (€).
Kontrollverlust: Helen Thompson über die Frage, ob der Westen endgültig die Kontrolle über den Ölmarkt verloren hat. (Unherd)
Gefährliche Konsequenzen: Der Economist über die Reshoring-Illusion (€).
Dystopie wird Realität: Thomas Chatterton Williams über die Ausschreitungen in Frankreich (The Atlantic, $):
"[In Frankreich] wird Martin Luther Kings’ berühmte Formulierung von Ausschreitungen als der Sprache der Ungehörten auf die Spitze getrieben: Im heutigen Frankreich sind Ausschreitungen die Sprache der Stummen.”
Der Star, den niemand kannte: Ted Gioia über Nick Drake.
Zeitgeisty: Über die Literaturkritik von Patricia Lockwood.
1 Buch für die Sommerhitze
Am Freitag hatte ich unbedingt das Bedürfnis, mal wieder in die Bücher von Tim Gautreaux reinzulesen - genauer gesagt in seine Kurzgeschichtensammlung “Signals”. Vielleicht liegt es daran, dass seine Geschichten im tiefen Süden der USA spielen, wo der Sommer unerträglich heiß ist und aus nicht viel mehr als Schweiß, Schatten, Klimaanlagen und zirpenden Grillen besteht.
In diesem Sujet zeigt Gautreaux völlig klischeefrei gewöhnliche Menschen, die in ungewöhnliche Situationen geraten. Weil das Leben manchmal Abzweigungen, Wendungen und Momente bereit hält, die uns zu dem machen, was wir eigentlich niemals sein wollen - und am Ende eben doch sind. Klingt vielleicht etwas kryptisch, aber wer die Geschichten liest, wird verstehen, was ich meine. Deshalb sei hier die Kindle-Version von “Signals” für sieben Dollar dringend empfohlen. Ich habe sie in New Orleans damals mit intensiver Begeisterung gelesen.
Bis zur nächsten Ausgabe, irgendwann!
Johannes