Hallo mal wieder! Dieser Newsletter ist ein unregelmäßiges Experiment, ich will es aber nicht völlig vergessen. In dieser Woche habe ich mich jeden Abend hingesetzt, um ein paar Notizen zu machen. Entsprechend meiner Arbeitswoche sind die Themen sehr bundespolitisch geprägt. Hier sind sie.
Montag, 25. September 2023: Gipfel
Warum ist das deutsche Gipfel-Format nicht tot zu kriegen? Ich erinnere mich dunkel, dass diese ganze Gipfelei zu Beginn der Merkel-Ära nur belächelt wurde. Substanzlos, PR-trächtig, nichtssagend. Inzwischen aber versetzen Gipfel-Termine die mediale Öffentlichkeit in Aufregung.
Der heutige Baugipfel im Kanzleramt war ursprünglich übrigens gar kein Gipfel, sondern ein Treffen des “Bündnisses für bezahlbaren Wohnraum”. In den vergangenen Wochen aber haben die Immobilienverbände das Ganze immer wieder Gipfel genannt, um die Erwartungshaltung zu schüren. Was auch geklappt hat: Irgendwann sprach auch Scholz im Bundestag vom Baugipfel und jetzt werden ein paar schlagzeilenträchtige Erleichterungen für Baubranche und Häuslebauer verkündet, die weitestgehend Selbstverständlichkeiten und viele vage Absichtserklärungen erhält.
Das Ganze wird dann mit einem Pressestatement abgerundet, bei dem keine Fragen zugelassen sind. Die Botschaft “Wir kümmern uns”. Und das scheint letztlich schon zu genügen, man hat wahrscheinlich mal wieder für einige Monate Ruhe. Später ging es dann noch zum “Luftfahrtgipfel”, am Mittwoch wartet dann der “Chemie-Gipfel”. Ohne Pressestatement. Aber man hat jenseits der Botschaft “Wir kümmern uns” womöglich ohnehin nicht viel zu sagen.
Dienstag, 26. September: Faeser
Die Wahlkampf-Kampagne der Bild gegen Nancy Faeser, heute mit der Skandalisierung eines generischen Neujahrslob-Schreibens von Staatssekretär Markus Richter an den später gefeuerten BSI-Chef Arne Schönbohm.
Wer meinen anderen Newsletter liest, weiß, dass ich der Ansicht bin, dass die Versetzung Schönbohms tatsächlich für skandalös halte und der Meinung bin, dass das in einer etwas weniger abgestumpften Demokratie auch Konsequenzen für Faeser hätte. Aber wo seriöses Aufklären gefragt wäre, haben CDU/CSU und Bild zuletzt einen Zirkus veranstaltet, der Faeser eher geholfen hat.
Was nichts daran ändert, dass Faeser bislang keine Eignung für höhere Ämter erkennen lässt. Als Ministerin agiert sie schlecht beraten, teilweise opportunistisch und kommunikativ oft unprofessionell. Als Bundesinnenministerin im hessischen Wahlkampf setzt sie auf vorwiegend auf mediale bundespolitische Mitnahme-Effekte (Ankündigungen, Razzien, etc.). Für das Amt als Ministerin, zumal Verfassungsministerin, eigentlich zu leichtgewichtig - aber gutes Exekutiv-Personal für den Bund ist in der SPD inzwischen gar nicht mehr so einfach zu finden.
Mittwoch, 27. September: Reibungsverluste
In der Regel halte ich mich vom “woken” wie vom “anti-woken” Diskurs gleichermaßen fern. So enthält auch der Newsletter von David Rieff mit seiner Kritik an den postmateriellen Progressiven (a.k.a. “The Woke”) oft nur die Variation auf ein von ihm bekanntes Riff.
Dennoch ist Rieff, Sohn von Susan Sontag, natürlich vor allem Kulturkritiker und kein Kulturkämpfer, deshalb blitzen immer mal wieder scharfe Gedanken auf.
So wie sein Argument hier zum Beispiel: Die Vorstellung der reaktionären amerikanischen Rechten, die "Woke"-Kultur sei ein marxistisches Komplott aus Akademiker-Kreisen, ist für Rieff völlig falsch. Vielmehr sei das Gegenteil richtig: Es gehe den “Woken” nicht um politische Emanzipation, sondern um Anerkennung und psychologische Beruhigung.
Wie im Konsumkapitalismus [vgl. Amazon Prime, Uber, etc.] gehe es darum, jede Form von Reibung auszuschalten. In diesem Falle, indem gesellschaftliche Reibung mit Unterdrückung gleichgesetzt wird. Entsprechend kann die Kultur der Wokeness weder eine materielle Systemkritik auf die Beine stellen, noch irgendeine Form von hoher Kunst, da gute Kunst immer Reibung erzeugt.
Natürlich lässt sich jetzt wie üblich die Karte spielen, Rieff spreche eben mit der Stimme der Privilegierten. Das mag so sein, aber er legt eben auch den Finger in die Wunde: Der Wunsch nach symbolischer Repräsentation ist per se keine Kritik an den materiellen Verhältnissen. Entsprechend haben selbst Großkonzerne keine Probleme, sich diesen Forderungen symbolisch anzuschließen.
Ob Woke-ismus damit zumindest eine Reform der herrschenden Verhältnisse anstrebt oder im materiellen Sinne eher Stagnation verkörpert, angesichts des teils inhärenten Essentialismus sogar eine Regression: darüber ließe sich sachlich diskutieren, wäre der Diskursraum nicht vollgemüllt mit Schubladen, Schablonen und anderen Kulturkampf-Accessoires.
Donnerstag, 28. September: Warum so frustriert, Amerika?
Die Biden-Wiederwahl ist selbst gegen Donald Trump in großer Gefahr. Das liegt nicht nur am krächeligen US-Präsidenten, sondern auch an den Umständen. So meldet Bloomberg ($) diese Woche folgende Zahlen aus einer FED-Studie:
Die unteren 80 Prozent der US-Haushalte haben inflationsbereinigt inzwischen weniger Vermögen und Ersparnisse als zu Beginn der Pandemie.
Das Ganze ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass hier 2021 (durch die Stimulus-Schecks) noch Höchstwerte verzeichnet wurden.
Auch die reichsten 20 Prozent der US-Haushalte mussten Vermögensverluste hinnehmen. Das Geldvermögen liegt aber weiterhin acht Prozent über den Werten zu Pandemiebeginn - beim Rest liegt es acht Prozent darunter.
Das Ganze findet vor einem Szenario statt, bei dem die Inflation zwar sinkt, aber die hohen Zinsen gerade voll durchschlagen. Sei es bei der Weiterfinanzierung von Immobilienkrediten oder bei der beliebten Umschuldung von Konsumkrediten/Kreditkarten-Schulden.
Es sieht gerade danach aus, dass die USA spätestens zur Mitte des nächsten Jahres in die Rezession rutschen. Was das für die Wahlen im November bedeutet, brauche ich nicht weiter ausführen.
Freitag, 29. September: Friedrich Merz
Als Friedrich Merz Ende Juli kurzzeitig versehentlich die CDU-”Brandmauer” zur AfD beschädigte, war meine Prognose: Das ist der Anfang vom Ende der Ära Merz. Mit seiner Zahnarzt-Hyperpolemik dürfte er diesen Prozess noch beschleunigt haben. Die Scholz-SPD, die gegen jeden anderen Unionskandidaten absehbar chancenlos sein sollte, dürfte das mit Sorge betrachten.
Erstaunlich: Merz ist 67 Jahre alt und damit ein Jahr älter als sein Parteikollege und NRW-Dauerminister Karl-Josef Laumann. Und doch fehlt es Merz eben an jener Ernsthaftigkeit, man mag beinahe “Reife” sagen, die Laumann heute in der Debatte an den Tag legt.
Allerdings tätigt Merz seine Aussagen auch vor dem Hintergrund einer wachsenden politischen Spreizung zwischen West- und Ost-CDU. Dieser Drift wird in den kommenden Jahren auch noch seine Nachfolger und Nachfolgerinnen beschäftigen.
Und ich habe es in Ausgabe #05 bereits erwähnt: Die Zukunft des Konservatismus ist eine der wichtigsten politischen Fragen unserer Gegenwart.
Samstag, 30. September: Mearsheimer
Faszinierendes Porträt über John Mearsheimer im New Statesman ($) über Geistesgeschichte und aktuelle Rolle der (Neo)Realisten in der Debatte über den Ukraine-Krieg. Diesen Teil habe ich mir fett angestrichen (Übersetzung):
"Mearsheimer verstand aber, warum Fukuyamas Behauptung des kapitalistischen Triumphs letztlich sowohl die Perspektive als auch das Ziel der US-Außenpolitik definierte. 'Die meisten Menschen im Westen sind darauf bedacht, herauszufinden, wie man der Tragödie der Großmachtpolitik entkommen und in eine friedlichere Welt eintreten kann. Deshalb war Franks [Fukuyama] Aufsatz für so viele so attraktiv - er sagte, dass wir dabei sind, diese Logik gerade zu überwinden.'
Anarchie, eiserne Käfige, Naturzustände, Tragödie, Macht, Krieg – Mearsheimer räumt ein, dass seine Version des Realismus 'keine schöne Geschichte ist', insbesondere im Vergleich zur erhebenden Sprache der US-Politik: Fortschritt, Menschenrechte, Zusammenarbeit, offene Märkte, Demokratie. 'Im Liberalismus eingebettet', sagte er mir, 'ist der Glaube an den Fortschritt, der Glaube, dass es möglich ist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Der Realismus sagt, dass das nicht möglich ist. Die internationale Politik ist eine Tragödie – sie war es immer, sie ist es heute, und sie wird es immer sein. Diejenigen, die glauben, dass man dem eisernen Käfig entkommen und diese hobbes'sche Welt überwinden kann, geben sich Illusionen hin. Mein Argument beunruhigt Liberale zutiefst.'"
Sonntag, 1. Oktober: Sunday Song
Passender Songs zum Wetter und für Nostalgiker des Neunziger-Sounds (mehr Musik, die ich 2023 gesammelt habe, findet sich auf dieser Spotify-Playlist)
Bis zum nächsten Mal!
Johannes